THE SISTERS BROTHERS

„THE SISTERS BROTHERS“ von Jacques Audiard (Co-B + R; Fr/Spanien/Rumänien/USA/Belgien 2017; Co-B: Thomas Bidegain; nach dem gleichn. Roman von Patrick de Witt/2011; K: Benoit Debie; M: Alexandre Desplat; 121 Minuten; deutscher Kino-Start: 07.03.2019); ER gilt als einer der bedeutendsten europäischen Filmemacher, der heute 66-jährige Franzose JACQUES AUDIARD. Der 2015 mit seinem Gesellschafts-Thriller „Dämonen und Wunder“ (s. Kino-KRITIK) bereits zum vierten Mal im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes eingeladen war und diesmal mit dem Hauptpreis, der „Goldenen Palme“, prämiert wurde. Davor hatte er sich mit Werken wie „Der Geschmack von Rost und Knochen“ (s. Kino-KRITIK); vor allem: „Ein Prophet“ („s. Kino-KRITIK)/“Großer Preis der Jury“ in Cannes) oder „Der wilde Schlag meines Herzens“ (2005) und „Tödliche Bekenntnisse“ (s. Heimkino-KRITIK) einen großartigen Namen und Ruf als vorzüglicher Spannungsfilmer gemacht.

Hier bricht er in das uramerikanische Ami-Genre, den Western, ein. Wobei es Jacques Audiard weniger um die dort üblichen Gut-Böse-Konstellationen geht, sondern um ironische, spannende Brechungen wie sie das Genre noch nie erfahren hat. Während die Schießereien wie nebenbei „veranstaltet“ werden, treten mittenmal doppeldeutige wie hintergründige „Gedanken“ und „Merkmale“ auf den großartigen Themen- wie Erzähl-Plan. In Oregon im Jahr 1851. Wo die große Gier nach dem Gold herrscht. Und die Sisters-Brothers Eli (JOHN C. REILLY) und Charlie, der Jüngere (JOAQUIN PHOENIX), als „erfolgreiche“, berüchtigte Profi-Killer unterwegs sind. Als zugleich völlig gegensätzliche Brüder der Familie Sisters. Während der in die Jahre gekommene Eli immer wieder von Sinnzweifel und Zukunftsfragen befallen ist, erweist sich Charlie als zorniger Kampf-Trinker und resoluter Outlaw. Natürlich pflastern viele Leichen ihren Weg. Auch von vielen Unbeteiligten, die zufällig ihren Blutweg kreuzten.

Ihr neuester Auftrag stammt von einem ominösen „Commodore“ (zweimal kurz im Bild: RUTGER HAUER). Der hat es auf einen gewissen Hermann Kermit Warm (RIZ AHMED/“Four Lions“) abgesehen. Dieser Chemiker hat eine Formel erfunden beziehungsweise eine Flüssigkeit hergestellt, mittels der Gold im Wasser „sichtbar“ wird. Natürlich giert der Commodore danach. Und hat nicht nur die Sisters auf ihn angesetzt, sondern auch einen Privatdetektiv vorausgeschickt, John Morris (JAKE GYLLENHAAL), der Warm den gnadenlosen Folter-Brüdern ausliefern soll. Damit DIE diese Formel aus ihm „herauspressen“. Doch in der langen Zwischenzeit haben sich Hermann Warm und John Morris nicht nur kennen-, sondern auch schätzen-gelernt. Was die bestehenden Abmachungen völlig „durcheinander“ bringt.

Was machen eigentlich Cowboys, wenn sie reiten? Gut, sie reiten, aber was machen sie sonst noch? Irgendwann müssen auch sie „ausscheiden“. Und worüber sprechen sie während der unendlich langen Reiterei? Wie ernähren sie sich? Was überhaupt empfinden sie. Überhaupt und speziell. Haben sie jemals an ihren Handhabungen gezweifelt? Kamen ihnen jemals Gedanken und Fragen zum Sinn ihres Tuns und ihrer Existenz-allgemein? Und wie sind sie dann damit umgegangen? Wir kennen in Western nur die physische Außenschale des Führungspersonals. Motto: Wenn John Wayne oder Clint Eastwood zur Waffe greifen. Aber auch diese Figuren mussten doch auch „ganz normale“ Minuten, Stunden, Tage „innen“ erleben, wo sie „nichts“ tun, sondern nur simpel – so durch die Gegend trotten? In Richtung des Duell-Ziels. Was, verdammt nochmal, machten/sagten/empfanden sie während jener endlosen Zeiten? Was bewegte sie? Gedanklich? Jacques Audiard präsentiert sozusagen, über Eli Sisters, die „nervösen Psycho-Fragen“ eines „Woody Allen“ auf der Sattel-Couch. Beim Venedig-Festival im Vorjahr gab es dafür den „Silbernen Löwen“ für die „Beste Regie“.

„The Sisters Brothers“ ist eine Art schelmische, tragikomische, aggressive Philosophie-Blutspur. Von zwei namhaften Westernern, die sich plötzlich konfrontiert sehen mit ihren Ängsten, Wünschen und Existenzfragen jenseits von dauerhafter Gewalt. Von wegen: Zukunft. Familie. Endlich Zur-Ruhe-Kommen. Charlie säuft sich dies vom Hals, Eli dagegen sieht sich künftig konkret anders positioniert. Wohlwissend, dass sie nicht mehr zu den Jüngsten zählen. Und „solche Entscheidungen“ einer gewissen Dringlichkeit bedürfen. Zudem: Man entdeckt beim Krämer eine – bisher nicht erlebte – Zahnbürste. Außerdem sehen wir, wie sich Westerner gegenseitig die Haare schneiden. Ist schon… sagen wir mal… komisch. Doch… erst einmal gilt es, sich in dem aktuellen Schlamassel den vielen Widersachern zu stellen. Aber auch bei denen, also einigen, also bei Warm und Morris, finden sich plötzlich eigenwillige Gedanken zu diesem ganzen scheußlichen, aktuellen, verabscheuungswürdigen Wertesystem „Amerika“ mit dem Gewalt-Motto „Folge dem Geld“ und wie man es umgestalten, also friedlicher machen könnte. Und gerechter.

Ein sagenhafter Film. Faszinierend denk-bar. Zwei ungleiche Kerle auf der Suche zu sich selbst. Inmitten eines knallharten, schmutzigen, schmerzhaften Westerns, mit diesmal aber ZUDEM auch vielen kribbligen Existenz- und Sinn-Fragen. Kann es sein, dass das, was wir seit Ewigkeiten „ausüben“, Menschen zu jagen und zu töten, kann es sein, dass dies eigentlich dem Sinn des Da-Seins widerspricht? Warum eigentlich nicht die Seiten wechseln, dem Helden-Status einfach abschwören, um sich im besonnenen Mittelmäßig-Normalen zu probieren? Jacques Audiard blickt gegen Ende auf die zu riechende „Gemütlichkeit“ eines Bettes, in das sich Eli genüsslich fallen lässt.

„The Sisters Brothers“, Motto: „Der Mensch lebt nicht vom Tod allein“, besitzt vier prächtige Charaktere auf den Sätteln. Mit JOHN C. REILLY („Oscar“-Nominierung für seinen Part in „Chicago“/2002) & JOAQUIN PHOENIX („Oscar“-nominiert als Johnny Cash in „Walk The Line“/2006; „Golden Globe“ 2014 für „Her“) überzeugen und faszinieren mit ihrem nuancierten, differenzierten Seelen-Helden-Spiel. Ebenso ereignisreich bilden JAKE GYLLENHAAL („Brokeback Mountain“) und RIZ AHMED (schon 2014 Partner von Gyllenhaal in „Nightcrawler – Jede Nacht hat ihren Preis“) ein kluges Gespann, das sich von Methoden und (Zerstörungs-)Werten im Amerika Mitte des 19. Jahrhunderts verabzuschieden beabsichtigt.

Wer Lust auf einen cleveren, also klugen und zugleich immens ereignisreichen, besseren Western hat, sollte sich „The Sisters Brothers“ nicht entgehen lassen. Ist ein Favorit für die Kinofilm-Bestenliste 2019 (= 4 1/2 PÖNIs).

 

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