DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN

PÖNIs: (4/5)

„DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN“ von Jacques Audiard (Co-B + R; Fr/Belg 2011; Co-B: Thomas Bidegain; K: Stéphane Fontaine; M: Alexandre Desplat; 127 Minuten; deutscher Kino-Start: 10.01.2013); vor einem Jahr, Anfang 2012, kamen „die Franzosen“ mit einem wunderbar eigensinnigen Beziehungs-Opus erfolgreich in die Kinos (natürlich: „Ziemlich beste Freunde“), und auch zu Beginn dieses Jahres verblüffen sie mit einem wuchtigen, faszinierenden „extraordinären“ Melodram. Das eben nicht glatt, bunt und gefällig von Mann & Frau erzählt, die erst brav „und locker“ mit üblichen, emotionalen Verrenkungen herumtun, bevor sie sich happy in die Arme schließen, sondern handelt von zwei spannenden Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die erhebliche, also beschwerliche, aber nie schwülstige, aufgesetzte Schicksalswege gehen müssen, bevor sie überhaupt zusammen eine „melancholische Chance“ wahrnehmen. Können. Dürfen. Dieser wirkungsvolle Film heißt im Original „De rouille et d’os“ und hatte im letzten Frühjahr seine Erstaufführung bei den Filmfestspielen von Cannes.

Der Ursprung des Films liegt im Kern eines Novellenbandes des kanadischen Autoren Craig Davidson („Rust and Bone: Stories“/2005): „Wir empfinden sie als Darstellung einer zweifelhaften, modernen Welt, in der das Leben des einzelnen Menschen jederzeit von dramatischen, zufälligen Umständen aus den Angeln gehoben werden kann“, erklären Jacques Audiard und Co-Drehbuchautor Thomas Bidegain ihren literarischen Ausgangspunkt im Presseheft. Eine Reise ist der Beginn. Vom Norden Frankreichs in den Süden. Ali (MATTHIAS SCHOENAERTS) ist Kampfsportler und Gelegenheitsarbeiter. Sam ist sein fünfjähriger Sohn, den er aber kaum kennt. Und der sich nun in seiner Obhut befindet. Mittellos und ohne Freunde finden beide Unterschlupf bei seiner Schwester Anna (CORINNE MASIERO) an der Côte d’Azur. Sie bringt die Beiden in ihrer Garage unter und nimmt das Kind unter ihre Fittiche. Er findet einen Job bei einer Sicherheitsfirma. In einem Nachtclub, wo er sich als Türsteher/Aufpasser zusätzlich verdingt, trifft er erstmals auf die etwas verstört wirkende Stéphanie (MARION COTILLARD). Sie trainiert im Marineland Wale. Als sie bei einem Handgemenge verletzt wird, bringt er sie nach Hause. Wochen später ruft sie ihn an. Signalisiert, dass sie Hilfe benötigt. Er, der inzwischen bei bzw. mit illegalen Boxkämpfen Zusatzgeld verdient, sieht sich eigentlich als alleinverantwortlicher, ziemlich gefühlsresistenter Solist. Und akzeptiert doch ihren „stillen Aufschrei“. Stéphanie hat bei einem Unfall beide Unterschenkel verloren. Betrachtet sich als depressives Wrack. Mit „dem“ sich nun der schlichte wie unkontrollierte Ali-Klotz eher widerwillig „zu befassen“ beginnt. Nüchtern, wie er es gewohnt ist, und schmucklos.

Menschen, die sich weniger über die verbale, sondern mehr über die körperliche Sprache definieren. Blicke, Gesten, Bewegungen. Der Ausdruck von Ahnung, Verwunderung, von ihrer „Normalität“, von eben Rost und Knochen. Der Überlebensfighter und die Lebensmüde. Bei Ali verlaufen Körper und Geist diametral, bei Stéphane vereint sich die geballte emotionale „Restkörperwut“. Dabei beginnen sie, sich gegenseitig „zu lenken“. Das WIE dabei besteht aus viel deftiger Verzweiflungsenergie. Und einem brachialen Doch-Überlebenswillen.

Er wurde am 30. April 1952 in Paris als Sohn des bekannten, französischen Drehbuch-Autoren und Regisseurs Michel Audiard geboren: JACQUES AUDIARD. Er gilt mit seinen auch bei uns geschätzten Werken wie „Lippenbekenntnisse“ (2001/mit Vincent Cassel), „Der wilde Schlag meines Herzens“ (2005/mit Romain Duris + Niels Arestrup) sowie vor allem zuletzt mit „Ein Prophet“ (2009) als Meister sowohl des harten Genre-Kinos wie auch als formidabler Romantiker des Europäischen Kinos. Seine präzisen Charakterzeichnungen sowie sein sicheres Gefühl für schmucklose, radikale, berührende Leidenschaften, lassen ihn auch hier unsentimental „gewinnen“. „Der Geschmack von Rost und Knochen“ ist poetischer Realismus pur. Menschen in extremen Situationen, sowohl sozial wie emotional, und ihre ruppigen Bewegungen. Innen wie außen. Kino-Magie einmal anders. Verblüffend, aufwallend, überrumpelnd. An einer diesmal tristen Côte d‘Azur. Mit „atmosphärischen“ Instinkttypen. „Oscar“-Lady MARION COTILLARD (die Edith Piaf in „La vie en rose“/2007) als aufmüpfige wie entrückte Wut-Frau und der charismatische, belgische Grobklotz MATTHIAS SCHOENAERTS (der Rinderzüchter aus „Bullhead“) bilden ein hinreißendes, authentisch wirkendes Anti-Paar. In der überzeugend-intensiven Mixtur aus Verzweiflung, radikalem Wollen an „Leben“ und „Mitmachen“, an spannendem Charaktergefälle.

Tiefe Kraft: der ganz andere, raue, bitter-zarte Geschmack von Romantik, was für ein erneut brillantes Kino-Gefühlserlebnis wieder vom französischen Nachbarn (= 4 PÖNIs).

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