DÄMONEN UND WUNDER

„DÄMONEN UND WUNDER“ von Jacques Audiard (Co-B + R; Fr 2014; Co-B: Noé Debré, Thomas Bidegain; K: Eponine Momenceau; M: Nicolas Jaar; 115 Minuten; deutscher Kino-Start: 10.12.2015); der französische Filmemacher JACQUES AUDIARD, Jahrgang 1952, zählt zu den bedeutendsten, zeitgenössischen Künstlern des französischen Kinos. Bekannt wurde er auch bei uns durch Werke wie „Der wilde Schlag meines Herzens“ (2005), dem 9fachen „César“-Preisträger „Ein Prophet“ (s. Kino-KRITIK) sowie „Der Geschmack von Rost und Knochen“ (s. Kino-KRITIK). Sein neuer Film war in diesem Jahr der Siegerfilm bei den Filmfestspielen von Cannes, bekam die „Goldene Palme“.

Audiard kümmert sich um die, die öffentlich kaum eine Sprache haben. Deren individuellen Geschichten und fürchterliche Trauma-Schicksale tagtäglich in den TV-Nachrichten oder Zeitungs-Infos „nebenbei“ abgehandelt werden. Und zu denen man kaum einen Bezug findet, weil die nahen Bilder fehlen. Nach Gefängnis- und Behinderten-Drama nun Flucht und Weiter-Leben-Sicht. Mit viel Wut-Wucht.

Nach dem Krieg. Dheepan, so auch der originale Titel, hat als Freiheitskämpfer in Sri Lanka gekämpft und muss fliehen (JESUTHASAN ANTHONYTHASAN). Bekommt eine junge Frau und ein Waisenkind „zugewiesen“, kann mit gefälschten Papieren als „Familie“ nach Frankreich ausreisen. Landet dort in einer Pariser Zweit-Hölle. Außerhalb. In einem der „berüchtigten“ Sozialbau-Viertel, wo eine Parallelgesellschaft ausgerufen ist, das Recht der Stärkeren gilt und die Polizei sich nicht mehr blicken lässt. Die kleine Zufallsgemeinschaft bemüht sich um unauffällige Anpassung. Dheepan übernimmt einen Hausmeister-Job, kehrt täglich den Dreck der Anderen weg, während Yalini, seine „Frau“ (KALIEASWARI SRINIVASAN), einen Job als Altenpflegerin übernimmt und zu gerne ausbrechen würde, um zu einem Cousin nach England zu ziehen. Währenddessen die kleine Illayaal (CLAUDINE VINASITHAMBY) zur Schule geht und vor allem unter dem Mangel „elterlicher“ Liebe leidet.

Wie existieren, wenn man quasi von einem Krisengebiet in eine ähnliche Spannungsregion umgezogen ist? Wo im Grunde dieselben Gewaltbedingungen vorherrschen? Und wo man zudem mit Fremden als „Familie“ unauffällig zusammenleben muss? Um die „amtliche“ Rechtfertigung für das Hier-Sein zu erlangen? Dheepan will sich beherrschen. Sich nicht von einem weiteren (jetzt: Banden-)Krieg einbinden lassen. Doch als auch seine neue Existenz, durch den Dauer-Streit und die Aggressionen in der unmittelbaren Nachbarschaft ihn, „seine Frau“ und „sein Kind“ bedroht, muss der ehemalige Soldat aus seiner vergleichsweise sicheren Deckung heraus. Muss Stellung beziehen. Muss wieder in den Gewaltring zurück. Um sich und die Seinen zu schützen.

Das Gemeine an diesem Film ist seine ständig laute Ruhe. Dieses unterschwellige Gefühl nach unmittelbaren Explosionen, die zum täglichen Ritual an diesem Pariser Vorort gehören. Diese latenten, selbstverständlichen Unmenschlichkeiten. Mitten in diesem doch an sich hochzivilisierten Frankreich. Jacques Audiard erzählt geradezu unaufdringlich. Botschaftslos. Ohne dicke Ausrufungszeichen. Als spannender Chronist. Seine Figuren und Bilder sprechen eine deutliche, harte Sprache. Werden wie beiläufig und dadurch umso intensiver zum Identifizieren gebracht. Audiard entpuppt sich als derzeit präzisester Beobachter, Schilderer sozialer Zustände. In Europa. Mitten unter uns. Am Ende kreiert er – verzweifelt schön – Hoffnung. Auf Besserung. Sonst halten wir es ja gar nicht mehr aus.

Keine Promis. Die hieraus eine „Show“ machen würden. Möglicherweise alles nur verwässern. Stattdessen unverbrauchte Mitwirkende. Die Titelrolle spielt JESUTHASAN ANTHONYTHASAN, 47, ein ehemaliger Kindersoldat der tamilischen Rebellen, der nach Thailand floh und in Frankreich politisches Asyl bekam. Er ist Schriftsteller, hat bisher nur in einem einzigen – indischen – Film gespielt und zeigt sensible, charismatische Präsenz. In diesem grandiosen Film, der beeindruckend-nachhaltig und prächtig-fies in den Kopf zielt.

„Dämonen und Wunder“ ist ein außergewöhnlich-starkes Kino-Erlebnis (= 4 PÖNIs).

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