PÖNIs BLOG (147): Lesen bitte: ERICH KÄSTNER; Sehen bitte: „FABIAN“; „QUO VADIS, AIDA?“; Kultiger JAZZ; „ROSSINI oder …“; TV-KINO-HIT; DUELLING BANJOS

0.)   FABIAN ist ERICH KÄSTNERs Meisterwerk. Doch das Buch mit dem Zusatztitel DIE GESCHICHTE EINES MORALISTEN wurde vor seinem Erscheinen 1931 verändert und gekürzt, denn der junge Kästner (23.2.99 – 29.7.74) hatte in seinem ersten Roman alle Register gezogen. Das machte das Manuskript für den Verlag zu einem Sprengsatz, den das Lektorat mit spitzen Fingern entschärfte und der dann – entgegen Kästners ursprünglicher Intention – schließlich unter dem Titel FABIAN erschien. Noch in der verharmlosten Fassung galt das Buch vielen als dekadent und obszön, Kästner selber sagte dazu: „Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind“. Seit 2013 liegt das Buch so vor, wie es Erich Kästner geschrieben und gemeint hat – rekonstruiert sowie unter dem Titel, den Kästner vorgesehen hatte: FABIAN oder DER GANG VOR DIE HUNDE. „Der originale Duktus ist wiederhergestellt, die Streichungen sind wieder eingefügt – und wir können selbst beurteilen, wie gefährlich Literatur einmal sein konnte“, teilt Kästner-Experte und Korrektor SVEN HANUSCHEK auf der Romanschluss-Seite 310 mit. Jetzt „diese komplette Literatur“ zu lesen oder: WAS FÜR EINE ORIGINALE LITERARISCHE ERICH KÄSTNER-DELIKATESSE.

1.)    FILM-BRILLANT. Vom Denken und Empfinden. Vom wüsten Erkennen. Vom Heute zum Damals. Mit umgekehrten Zeitzeichen. Titel = „FABIAN oder DER GANG VOR DIE HUNDE“. Von DOMINIK GRAF (Co-B + R); D 2019/2020; 176 Minuten. Bin perplex. Der Roman, er ist doch gelesen. VON WEGEN. Aber er ist doch seit vorgestern „bekannt“. Gewesen. VON WEGEN. Aber, nicht aber. Verlass‘ den Verweis auf = in die Vergangenheit. Denn wir wissen inzwischen: Gestern war falsch. Erst im Jahr 2013 tauchte das richtige literarische Gestern auf. Zum gültigen Wahrnehmen. Vom Moralisten zum Abläufer „vor die Hunde“. Während es in der Gesellschaft der Endzwanziger- Anfang-Dreißiger Berliner Jahre brodelt, bemühten sich Autor und sein Akteur um die angemessene gemeine leuchtende Ironie: Seht Ihr nicht, was sich  gerade für ein schrecklich-politischer Mist einbringt? Während wir immer unkontrollierter feiern, toben, unbeherrschter wimmern und heftig wummern? Das Gerade-Leben schmerzt DIE, die Denken. Wie für Jakob Fabian. Der mit – rum-eiert. Dabei doch nur gewillt ist, Mensch zu bleiben. Obwohl die geistigen, moralischen Shit-Einschläge immer heftiger werden. VON WEGEN – Arbeitslosigkeit durch unerwünscht-empathisches Handeln. Dazu: Stolpereien in der Liebe. Die als Lebenshilfe auf-, angenommen wurde, soeben erst entdeckt wurde. Und offenbarte, wir sind doch zuallererst Gefühlsempfänger. VON WEGEN Totalitarismus; Nationalsozialismus. Was gerade herumsprüht. Inmitten des deutschen Dampfes von 1931-Berlin. Also, klar doch darum: Es lebe das Laster. In den Bewegungen. In den Regungen. Im Puff wie auf dem Asphalt. Erinnere mich an den Roman, „den es so noch nie zu lesen gab“ (Rückseite Nachwort). Und schnell nach vorne, Erstes Kapitel, mit den Schlagzeilen der Abendblätter, die Fabian im Café durchforstet wie u.a.:  Strychnin lagert neben Linsen; Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen; Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl; Skandal im Städtischen Beschaffungsamt; Nervosität an den Kaffeemärkten; Bevorstehender Streik von 140.000 Metallarbeitern. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes. Eine Tasse Kaffee, bitte. Der Werbetexter Jakob Fabian schlägt sich mit Denk-Pannen herum. Der, so verheißt es der Sprecher im Film, von der wahren Liebe heimgesucht werden wird. Und dann  wurde. Als Rettung von diesem elenden Ballast? Vor dieser Stadt, die einem Rummelplatz gleicht? „Passense auf!“ schreit der Polizist, „Werd‘ mir Mühe geben“,  blöckt Jakob Fabian zurück. Als ob Mühe hilft.

Je mehr ich sehe, lese ich auch. Mir ist so als würde ich den kürzlich verschlungenen „Neuen“ Kästner-Roman parallel mit-lesen. Wenn Jakob und Cornelia ihre Beziehung einrichten. Und Fabians Gesichtsausdruck aufhellt. Hoffnungsvoll plötzlich ausschaut. Cornelia wird zum Glücksgefühl. Aber wie kriege ich jetzt die Verbindung zu Fabians (jetzt mal wieder der Nach- und nicht der Vorname) wohlhabenden Freund Labude hin, der in diesen Zeiten der Unsicherheit und Hektik politischen Aktivismus entgegenzusetzen versucht und nach einer tragischen Trennung auf Exzesse und Affären setzt.? Währenddessen Cornelia mit Filmambitionen klabüstert. VON WEGEN – da sind doch die steigenden Avancen des namhaften Produzenten Markart, der mit Versprechen VON WEGEN einer Schauspielkarriere lockt, falls Cornelia mit-spielt.

Ich werde zuschauender Realist. Im Parkett. Lege den Roman gedanklich beiseite und widme mich wieder = nur noch: diesem phantastischen Kino. Und staune enorm. Habe Ewig-Zeit nicht mehr solch einen wilden, ungestümen, aufbrausenden deutschen „Sieh-Zu“-Film gehabt. Der mich ständig mitzieht, um mich innerlich zu spalten, äußerlich zu denken, und dabei auch noch lärmt: Kannste nicht kürzer schreiben, du Filmkritiker? Könnte. Schon. Will aber nicht. Ich entscheide. Was wie lang und warum. Und überhaupt, ich bin ich. Kleingeschrieben. (Seltsam unpassend, der Zwischenruf, ich weiß).

Will noch was über das Ensemble sagen. DOMINIK GRAF („Die Katze“/1987/5 PÖNIs/ s. Kino-KRITIK), der Co-Autor und Regisseur, sorgt für rund Dreistunden verbale wie optische Vitalität (Kamera: HANNO LENTZ). Seinem Werk vermag man nicht zu entweichen. VON WEGEN Lebendigkeit, Nachdenklichkeit, Tiefenwucht, furioser Erotik-Zauber. TOM SCHILLING („Oh Boy“/2012/s. Kino-KRITIK) besitzt als Jakob Fabian die atmosphärische Vitalität, seine pessimistische Grundhaltung tatsächlich zu lösen. Ein wenig. Wenigstens. Raucht übrigens wie ein Schlot. (Fällt dem kritischen Nichtraucher auch auf). ALBRECHT SCHUCH („Neue Vahr Süd“), einer von zehn  European Shooting Stars 2021, vertritt als Labude, Stephan den zweifelnden und darüber wütenden Jakob-Freund, der für bessere Zeiten streitet. SASKIA ROSENDAHL, die attraktive Entscheiderin, will die Normalität sprengen ohne (zu) viel aufgeben zu müssen. Für Jakob Fabian wäre sie ein toller Halt. Doch Film und Produzent winken. Eifrig.

Beides funktioniert anpackend: Buch und Film, auch gerne umgekehrt, bilden eine grandiose Einheit. Passen, ergänzen-sich erstklassig. Erich Kästner lebt bei DOMINIK GRAF & Team blühend-glühend auf. VON WEGEN – Hör’n se auf, Lachen tut weh. VON WEGEN! (= 5 PÖNIs).

2.)   WUT. ZORN. TRAUER. Titel = „QUO VADIS, AIDA?“ Von JASMILA ZBANIC. Drama. Produktion: Bosnien-Herzegowina/Österreich/Rumänien/Niederlande/Deutschland/Polen/Frankreich/Norwegen/Türkei 2020; 104 Minuten. Bosnien, Juli 1995. Aida (JASNA DURICI) ist Übersetzerin für die UN in der Kleinstadt Srebrenica. Als die serbischen Milizen des Generals Mladic die Stadt einnimmt, gehört ihre Familie zu den Tausenden von Menschen, die im UN-Lager Schutz suchen. Die Dolmetscherin, die in den Verhandlungen Zugang zu entscheidenden Informationen bekommt, gerät zunehmend zwischen die Fronten. Dieser Spielfilm erzählt von nur wenigen dramatischen Tagen im Leben einer Frau, deren Schicksal für das einer ganzen Generation von Frauen steht, die den Krieg in Bosnien überlebt haben. Mehr als 8000 – fast ausschließlich männliche – Zivilisten wurden bei dem als Genozid eingestuften Massaker von Srebrenica von der bosnisch-serbischen Armee ermordet und in Massengräbern verscharrt. Es gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Neben den grausamen Taten der Armee von Ratko Mladic wurde im Zusammenhang mit dem Massaker auch die Rolle der Vereinten Nationen scharf kritisiert. Anknüpfend an ihr vielfach ausgezeichnetes Langfilmdebüt „Esmas Geheimnis – Grbavica“ („Goldener Berlinale Bär“ 2006/s. Kino-KRITIK) liefert Regisseurin und Drehbuch-Autorin JASMILA ZBANIC einen essenziellen wichtigen Beitrag zur Verarbeitung des Bosnienkrieges. Dabei betont sie den auch heute notwendigen Schutzauftrag von Staatengemeinschaften gegenüber geflüchteten Menschen aus Kriegsgebieten in der ganzen Welt. Wobei im Fokus die weibliche Perspektive eines männlich dominierten Krieges steht. „Das Ende der Geschichte ist in seiner ganzen Grausamkeit historisch festgeschrieben“, heißt es aktuell in der „SZ“-Kritik, die die Überschrift trägt: „In Europa, vor nur 26 Jahren“  (= 4 PÖNIs).

3.)   Wunderbare OPEN AIR-STIMMUNG. Titel = „JAZZ AN EINEM SOMMERABEND“. Vom Regisseur und leitendem Kameramann BERT STERN. USA 1959, 85 Minuten; in einer Produktion von The Burt Stern Trust (1960-2019). Ein filmisches wie musikalisches Sonderwerk. Der erste und einzige Film des weltberühmten Kult-Fotografen – u. a. Marilyn Monroes „Last Sitting“ – ist nicht nur ein herausragender Konzertfilm, sondern auch ein beeindruckendes Zeitdokument: Die Veranstaltungen des Newport Jazz Festivals und der America’s Cup Segelregatta von 1958 werden mit stimmungsvollen Bildern der Stadt und Menschen in der Sommerfrische elegant kombiniert. Auf der Bühne begegnen wir – neben vielen anderen und der Performance von Rock ’n‘ Roller CHUCK BERRY – Legenden wie u. a. LOUIS ARMSTRONG, GERRY MULLIGAN, THELONIOUS MONK, ERIC DOLPHY an der Querflöte und MAHALIA JACKSON. „Jazz on a Summer’s Day“ wird in bester Qualität präsentiert, der Film wurde in 4K von IndieCollect großartig restauriert. „Wir wollten einen ‚glücklichen‘ Jazzfilm machen, einen Film, der Musikerinnen und Musiker und das Publikum zeigt, die das Erlebnis genießen … Ich bin mir sicher, dass es uns gelungen ist, einen Film zu machen, den das Kinopublikum genauso genießen wird, wie die Zuhörer in Newport die Musik gehört und genossen haben“, äußerte Bert Stern. In der Tat, auch 62 Jahre später sind Film und Musikalität eine atmosphärische Performance, bilden einen strahlend-kompletten GENUSS (= 4 1/2 PÖNIs).

4.)   JUWEL. Titel = „ROSSINI ODER DIE MÖRDERISCHE FRAGE, WER MIT WEM SCHLIEF“. Von HELMUT DIETL. D 1996; 114 Minuten. Erstmals im Blu-ray-HEIMKINO. Mit 30minütigem Bonusmaterial. Zählte damals mit über 3,2 Millionen Kinobesuchern zu den erfolgreichsten Jahresfilmen. Von hunderten weißen Kerzen erleuchtet, strahlt es aus dem „Rossini“, dem allabendlichen Treffpunkt der Münchner Medien- und Schickeria-Szene. Dort treffen sich: ein Machoregisseur (GÖTZ GEORGE), der nervöse Produzent Reiter (HEINER LAUTERBACH), Möchtegern-Autor Kriegnitz (JAN JOSEF LIEFERS) und diverse Damen, die sich im verblassten Ruhm und den Schmeicheleien ihrer Verehrer sonnen, zum Fegefeuer der Eitelkeiten. Bedient werden alle mit Enthusiasmus von Ristorante-Besitzer Rossini (MARIO ADORF). Diesem Film, bei dem  GUDRUN LANDGREBE, VERONICA FERRES („Schneewitchen“), JOACHIM KRÓL, HANNELORE HOGER, ARMIN ROHDE und MARTINA GEDECK das Ensemble pikobello-scharf füllen, jetzt wieder oder erstmals zu begegnen, ist ein HEIMKINO-Ereignis (empfehle: s. Kino-KRITIK/5 PÖNIs).

5.)   TV-Kino-HIT. Titel = „LEAVE NO TRACE – MEINE WILDNIS“. Von DEBRA GRANIK. USA/Kanada 2017; 109 Minuten (mit Nachspann). Ist ein amerikanisches Independent-Movie, das vom Filmtitel her eher kaum neugierig macht(e). Und nach dem Anschauen – als brillanter Außenseiter – mit Zustimmungsbegeisterung versehen wurde (s. Kino-KRITIK/4 1/2 PÖNIs). Dieser Film, den das ZDF am Samstag-Abend, ab 23.15 Uhr zeigt, konnte zum hiesigen Kino-Start am 13. September 2018 alle Online-Kritiker bei „Rotten Tomatoes“ überzeugen und erreichte eine Zustimmungsrate von dort seltenen 100 Prozent. SEHR umfangreiche Empfehlung!

6.)   MUSIK. Es gibt Filme, die bleiben für immer in Erinnerung. Es gibt FILMMUSIK-Stücke, die bleiben unvergesslich. Original lautet der Filmtitel „DELIVERANCE“. „Befreiung“. Als der Streifen am 10. Oktober 1972 hierzulande anlief, hieß er: „BEIM STERBEN IST JEDER DER ERSTE“. Regie: JOHN BOORMAN. Mit: JON VOIGHT, BURT REYNOLDS. NEAD BEATTY und RONNY COX. In dem Klassiker duellieren sich zwei Banjo-Player. Das Liedgut heißt denn auch DUELING BANJOS. Avancierte danach zu einem großen Erfolg und gewann 1974 den „Grammy Award“ als bestes Country-Instrumentalstück. Das Lied basiert auf der Melodie von Yankee Doodle und wurde für den Film arrangiert von Eric Weissberg und Steve Mandel. Bin in dieser Woche zufällig wieder mal auf den Film gestoßen, der 2008 als „kulturell, historisch und ästhetisch bedeutsam“ in das „National Film Registry“  der  „Library of Congress“ aufgenommen wurde. „Packender Abenteuerfilm mit kulturkritischem Tiefgang. Der Brite John Boorman entwirft eine düstere Parabel über den Hochmut der städtischen Zivilisation, der durch die Rache der vergewaltigten Natur bestraft wird“, steht im Lexikon des Internationalen Films. Dieses Banjo-Duell ist mein Lieblings-Favorit in dieser Woche:

Wünsche eine musikalische, gesunde Stimmungswoche.

HERZlichst:     PÖNI PÖnack

kontakt@poenack.de

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