LEAVE NO TRACE – MEINE WILDNIS

„LEAVE NO TRACE – Meine Wildnis“ von Debra Granik (Co-B +R; USA 2017; Co-B: Anne Rosellini; nach dem Roman „My Abandonment“ von Peter Rock/2009; K: Michael McDonough; M: Dickon Hinchliffe; 109 Minuten; deutscher Kino-Start: 13.09.2018); in dieser, der 37. Kalender-Woche 2018, laufen am Donnerstag, den 13. September lt. Startplan 19 neue Filme in den Kinos an. Darunter zwei – routiniert choreografierte – Baller- und Gewalt-Movies aus Hollywood, die gut und gern „vorne“ stehen könnten bei der kritischen Filmbetrachtung – „Mile 22“ sowie „Predator – Upgrade“ -, und auch der theatralische deutsche Kinofilm „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ käme als Nr.1-Besprechung in dieser Woche durchaus in Frage. Was aber veranstalte ich? Nehme mir ZUERST ein US-Independent-Movie vor, das für mich der BESTE NEUE KINOFILM in dieser Woche ist. Obwohl selbst der deutsche („Sony“-)Verleih kaum an ihn glaubt, denn sonst hätte man ihm dort einen reizvolleren „deutschen Titel“ gegeben, als einfach nur den originalen simpel zu übernehmen: „LEAVE NO TRACE“; übersetzt: „Hinterlasse keine Spuren“, signalisiert… gar nichts. Jedenfalls nichts, was mich zunächst in Richtung Kino bewegt. Neugierig macht. „Leave No Trace“, aha. Und?

1.) „LEAVE NO TRACE“ wurde am 20. Januar 2018 auf dem renommierten „Sundance Festival“ gezeigt, immer eine exzellente Festival-Adresse. Im Mai 2018 wurde er beim Cannes-Festival in der Nebenreihe „Quinzaine des Réalisateurs“ vorgestellt. Der Film konnte bislang alle Online-Kritiker bei „Rotten Tomatoes“ überzeugen und erreichte eine Zustimmungsrate von dort seltenen 100 Prozent. „Leave No Trace“ weist Parallelen zu dem am 30. Dezember 2016 hierzulande angelaufenen großartigen Road-Movie „Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück“ von Matt Ross (s. Kino-KRITIK) auf.

2.) DEBRA GRANIK. Aus Cambridge, Massachusetts stammende Drehbuch-Autorin, Kamerafrau und Regisseurin. Am 31. März 2011 kam ihr Film „Winter’s Bone“ bei uns heraus (s. Kino-KRITIK) und avancierte zum Überraschungserfolg. Debra Granik bekam eine „Oscar“-Nominierung für das „Beste adaptierte Drehbuch“, und ihre Hauptdarstellerin, JENNIFER LAWRENCE, ebenfalls. Schlagartig wurden beide Frauen in Cineasten-Kreisen weltweit bekannt.

3.) Ihr jetziger Film ist wieder ein spannendes, außergewöhnlich ansprechendes Werk. Frei nach ihrem Motto: „Ich war schon immer an Menschen interessiert, die nicht konform sind, die einen Lebensstil finden, der nicht völlig konform mit der übrigen Gesellschaft ist“. Er basiert auf dem gleichnamigen Roman des Autoren Peter Rock aus dem Jahr 2009. Rock hatte einen im Jahr 2004 im Magazin „Oregonian“ veröffentlichten und sehr viel Öffentlichkeit erreichenden Artikel mit dem Titel „Out Of The Woods Police Rescue Father, Girl Who Say Forest Park Was Their Home For Four Years“ von Maxine Bernstein gelesen. In diesem Artikel wird von einem Mann berichtet, der irgendwo in der Nähe des Forest Parks vier Jahre lang mit seiner Tochter in einer selbst gebauten Unterkunft im Wald lebte. Sie hatten einen Gemüsegarten angelegt und einen Bach, in dem sie ihre verderblichen Waren lagerten. Frank war College-Absolvent und Vietnam-Veteran und unterrichtete seine damals 12-jährige Tochter Ruth mit alten Enzyklopädien. Frank empfand das Leben im Forest Park in Portland, Oregon besser, als das Leben auf der Straße. Als die Menschen in der Stadt hiervon erfuhren, wurden Tausende Dollars für einen Fonds gespendet, der für die Ausbildung von Ruth eingerichtet wurde, und ein einheimischer Polizeibeamter arrangierte es, dass sie auf einer Pferdefarm leben konnte.

4.) Er heißt Will (BEN FOSTER). Der verwitwete Irak-Veteran leidet an traumatischen Schüben. Lebt gemeinsam mit seiner 13-jährigen Tochter Tom (THOMASIN McKENZIE) in dem riesigen Waldgebiet am Rande von Portland. Haben hier ein spartanisches System der Unabhängigkeit und Sicherheit gefunden. Obwohl es kühl ist und oft regnet, fügen sie sich als eingespieltes Team ein in dieses komplexe Camp-System an Bäumen, im Gras, mit Planen. Nur manchmal kommen sie kurz in die Zivilisation zurück, wo Will seine Medikamente holt, um sie dann auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, um Lebensmittel zu besorgen. Ansonsten fühlt man sich beiderseits frei. Und innerhalb dieses – gesetzlich nicht zu beanstandenden – selbstgewählten kleinen Freiraums wohl. Man hat sich, ganz individuell, für sich arrangiert. Ohne Geschrei, ohne Anklage(n), ohne Missmut. Die Tochter liebt ihren Vater und teilt dessen Entscheidung, „so“ zu leben. Doch dann werden sie zufällig entdeckt und „zurückgebracht“. In die zivile Gemeinschaft. Auch hierbei geht es weder aggressiv noch vorwurfsvoll zu. Nur will die Gesellschaft, vertreten durch die Sozialbehörde, vertreten durch sich viel Mühe gebende Mitarbeiter, nicht, dass Menschen heutzutage „so“ leben. Großzügige Hilfe wird den Beiden angeboten. Will und Tom kooperieren. Fügen sich und „erfüllen“ die Vorgaben. Werden in einer Hütte untergebracht. Während der Vater einen Aushilfsjob bei einer Weihnachtsbaum-Plantage bekommt, geht Tom zur Schule.

5.) Irgendwann aber kann Will nicht mehr. Hält diese „Disziplin“, dieses Reglement, diese Abmachung mit der Gemeinschaft, dieses festgefügte Da-Sein, nicht mehr aus. Gemeinsam mit Tom begeben sie sich erneut auf die Wanderschaft. Auf die Suche nach einem Aufenthaltsort, der IHNEN zusagt. Besser: der vor allem Wills ständiger „Unruhe“ entspricht. Doch dann passiert ein Unfall und stellt ihr bisheriges konsequentes Seiten-Idyll in Frage.

6.) Selten in letzter Zeit einen so humanen, ohne Waffen (als Lösungsmittel) auskommenden amerikanischen Film gesehen. Voller Menschlichkeit und vor allem: Mitmenschlichkeit. In Sachen authentischer Gestaltung von individuellen Lebensbedürfnissen und eigenbestimmter Lebensplanung. Weder wird dabei eine Ideologie verkörpert noch der mitleidheischende Freiheitssong gesungen. Vielmehr wird von einem unspektakulären gesellschaftlichen Gemeinschaftsgefühl sensibel-eindringlich wie faszinierend erzählt. In dem trotz bitterer Kälte sehr viel Wärme und Fürsorge dominiert.

7.) Hieß der Licht-Blick einst – bei „Winter’s Bone“ – Jennifer Lawrence, die inzwischen zum Superstar der Hollywood-Szene aufgestiegene Ikone – so dominiert hier die 17-jährige neuseeländische Schauspielerin THOMASIN McKENZIE in ihrer ersten Hauptrolle. Sie überzeugt mit einer leisen, präsenten Charakterisierung, die genau den passenden Balance-Wunsch einer jungen Frau wiederspiegelt zwischen der Akzeptanz, auf Dauer abseits zu leben oder sich in die Gesellschaft mit deren Regeln einzugliedern. BEN FOSTER, 37, neulich erst – groß – in „Hell or High Water“ und – als Nebenfigur – in „Feinde – Hostiles“ aufgefallen, vermag mit wenigen Bewegungen, klaren Blicken und sensibler Körpersprachlichkeit seiner Figur Will präsente Wucht und stille Glaubwürdigkeit einzuhauchen; eine ebenso wunderbare Performance, ebenso wie die seiner jungen genialen Partnerin.

8.) Schießen oder Fühlen. Volltreffer oder Empfinden. Laut oder leise. Was wollen SIE in dieser Kino-Woche lieber sehen und hören? Ich setze ganz klar auf den brillanten Außenseiter: „LEAVE NO TRACE“ (= 4 1/2 PÖNIs).

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