ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN

Ja, es gibt sie. PRÄGEFILME. Unvergessen. Unübertroffen – DIE ZEIT ausatmend. In der sie entstanden. Mit Gültigkeit bis heute. In Sachen Cineasmus – Unterhaltung. Solch ein Juwel kommt heuer, nach über 45 Jahren, wieder heraus. Und „neu“, also in Bild und Ton komplett restauriert, digitalisiert. Und in der Vorvorwoche in München im KINO „genüsslich“ präsentiert. Ganz klar München, denn der Film stammt, kommt, ist und beschreibt „München“. Anno 1967. Es handelt sich also auch noch um einen DEUTSCHEN FILM, den es jetzt erneut zu lobpreisen gilt. Bei dessen Titel garantiert das obligatorische Erinnerungslächeln folgt. Um sogleich „Begriffe“ wie ES WIRD BÖSE ENDEN, FUMMELN oder MACHEN WIR NOCH EIN MATCH? schmunzelnd auszubuddeln. Der heiße Juni 1967. In München-Schwabing. Wo im Kunstkino gerade der französische Gangsterfilm „Ganoven rechnen ab“ (mit Lino Ventura, Charles Aznavour, Irina Demick) läuft. Und im Schlafwohnzimmer das französische Originalplakat vom Klassiker „Lohn der Angst“ (von 1953) hängt. Bei Martin. Um DEN sich hier – fast – alles dreht. Diesem Lebens-, also Überlebenskünstler. DER sich – fast – allem verweigert. Ein bewusster Verweigerer. Damals „offiziell“ auch Gammler, Faulpelz, Spinner genannt, DER sich selbst aber als „Pseudo-Philosoph“ sieht, denn „Pseudo-Philosophie ist eine verdammt ernste Sache“. Und sich mit banalen Schlagertexten für „Seemannslieder“ a la Freddy über Wasser hält. Als er aber Barbara (USCHI GLAS, süße 23) begegnet, muss dieser verschrobene Anarcho die volle Gefühlsfarbe bekennen. Schließlich lautet das Motto:

„ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN“ von May Spils (Co-B + R; D 1967; Co-B: Werner Enke, Rüdiger Leberecht; P: Peter Schamoni; K: Klaus König; M: Kristian Schultze; Schwarz-Weiß; 81 Minuten; Kino-Start BRD: 04.01.1968; Video-Veröffentlichung: November 1998; Heimkino-Veröffentlichung: 06.08.2013).

Die „Münchner Schule“. Dort versammelten sich damals DIE, die keinen Bock auf die „üblichen Filme“ hatten. Filmkünstler wie Klaus Lemke, Max Zihlmann oder Rudolf Thome versuchten sich „an Anderem“. Experimentierten. MAY SPILS, eigentlich Maria-Elisabeth Maier-Spils, geboren am 29. Juni 1941 im niedersächsischen Twistringen, lebte seit 1962 in München. Hatte 1966 zwei Kurzfilme gedreht: „Das Portrait“ + „Das Manöver“ (= sind mit im Bonusmaterial enthalten). Jetzt sollte der erste Langfilm folgen. Und so wurde, teilweise unter chaotischen Bedingungen, wie später zu hören war, in jenem Juni 1967 auf den Straßen, in Wohnungen, im Zoo, in der Straßenbahn (mit „Doornkaat“-Werbung) und auf einem „improvisiertem Polizeirevier“ in München ein schwarz-weißer „Gagfilm“ gedreht. Teilweise „so aus der hohlen Hand“. Der – damalige wie heutige – May Spils-Partner WERNER ENKE, am 25. April 1941 in BERLIN geboren, seit Anfang der 1960er Jahre in München lebend, plünderte seine „Gagmappe“, und man verfilmte sozusagen dessen „gesammelte Ideen, Szenen, Sketche, Aphorismen und Dialogfetzen“ (aus dem 12-seitigem Booklet zur Blu-ray-Disc). Motto: Der passive Verbal-Widerstand dieses Martin. Der manchmal einen „plötzlichen Energieanfall im linken Fuß“ bekommt, dann aber lieber notiert: „Die Fantasie wächst mit der Begrenzung des Raums“. Oder „Die wirklichen Erlebnisse sind bloß ein schlechter Ersatz für die Fantasie“. Oder dann auch schon mal anlässlich eines „Publikumsauflaufs“ auf der Straße erklärt: „Hier wird der schmutzigste Gammler Münchens kostenlos gewaschen“. Und der auch weiß: „50, mehr gebe ich mir nicht!“ Und schon mal bei IHR vorsichtig nachfragt: „Kannst du mich überhaupt ernähren?“

Es sind die späten 60er. Die spießigen Alten spielen Geige, zetern herum oder mimen uniformierte Autorität wie der schlanke 30-jährige RAINER BASEDOW als überforderter Polizist. Im Original-Trailer von damals (im Bonusmaterial) heißt es; es gehe um Freiheit. Hier: „Eine kleine Freiheit, die täglich gegen die Anschläge der feindlichen Umwelt verteidigt werden muss!“. Während der sonst so Interview-scheue, inzwischen 71-jährige WERNER ENKE im Bonusteil seine listige Bonmot-Pfiffigkeit in einem 10-minütigen Interview (zum Thema: Geburtstage) von 2012 unter ironischen Beweis stellt: „Sterben kann gar nicht so schlimm sein, sonst würden es ja nicht so viele tun“.

Was für ein zeitloser Charme- und Gesellschaftsbolzen, dieser heutige KULT-FILM. Zu dem ich Ihnen meine Original-Kritik von damals „vorstellen“ möchte. Mit Ansage: Die LITERARISCHE MITTWOCHSGESELLSCHAFT war in den 60er und 70er Jahren eine „Neigungsgruppe“ (so hieß das damals wirklich) der Berliner DGB-Jugend. Man kümmerte sich um „die Kultur“ in West-Berlin, traf sich zu Begegnungen, Gesprächen und Lesungen in dem DGB-Keller am Wittenbergplatz und gab monatlich eine kostenlose Broschüre („PRO + KONTRA“) mit kulturellen Mitteilungen und Kritiken über neue Theater-Inszenierungen und neue Filme heraus. Ich hatte das Vergnügen, ab 1967 sieben Jahre dort als Filmkritiker mitzuarbeiten. In der Ausgabe Nr. 61, herausgegeben am 30. Januar 1968, schrieb ich unter der Nummer F 117 die folgende (ungekürzte) Kritik über „ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN“:

Dieser Film ist zweifellos die angenehmste Überraschung der Saison und darf schon jetzt als der „Knüller des Jahres“ bezeichnet werden. Das Premierenpublikum klatschte, trampelte und juchzte vor Vergnügen; ich kann mich nicht erinnern, solche Randerscheinungen bei einem deutschen Film in der letzten Zeit erlebt zu haben. Es fällt bei der Kritik über dieses wunderbare „Schätzchen“ sehr schwer, die Begeisterung einigermaßen vernünftig zu Papier zu bringen.
Der Film erzählt eine Geschichte aus dem Schwabinger Sommer 1967, so wie sie sich tagtäglich in den Straßen, Wohnungen und Kneipen ereignet. Das sorglose, ein wenig gammlerische Leben in dieser Gegend trägt die charakteristischen Züge des Provisoriums, bedingt durch die Jugend der Bewohner, bedingt aber auch durch einen bewußten oder unbewußten (aber oft nur zu gewollten) Hang zum Außenseitertum. Zwei junge Männer („Der Spinner und der Prahler“), 25 und 33 Jahre alt und von Beruf Schlagertexter und Schauspieler, sind zwei dieser typischen Schwabinger. Chronisches, lässiges Sichgehenlassen ist Martins Hauptbeschäftigung, er wartet ständig darauf, daß nichts passiert. Ihm erscheint es geradezu grotesk, draußen herumzulaufen und jemandem „guten Tag“ zu sagen. „Nichts tun ist immer noch besser als irgendwas tun“, lautet das Motto dieses schlagertextenden Spinners. Henry ist dagegen anders, obwohl dieser Energiebolzen auch keineswegs „normal“ lebt. Er ist Martins Aufputscher und treibt diesen immer wieder dazu, die versprochenen Texte zu schreiben, damit wieder etwas Geld ins Haus kommt. Es ist eigenartig und doch wieder verständlich, daß diese Lebensform – die ja mehr einem Dahinvegetieren gleicht – in ihrer Zweisamkeit und im ganzen Miteinander eine eigenständige Vitalität entwickelt, die meilenweit von Pessimismus oder Selbstaufgabe entfernt ist. In gewissem Sinne scheint das für einen Teil der jungen Generation typisch zu sein, die sich eben ihre eigene Welt und sogar zum Teil ihre eigene Sprache schafft. Wie pflegt doch Martin des Öfteren nach einem Dialog zu bemerken: „…das nimmt noch mal‘ ein böses Ende!“.
Hier nehmen sich also junge Leute zum ersten Male durch ironische und satirische Pointierung auf die Schippe, und es gelingt ihnen vorzüglich. So etwas verrückt Verspieltes ist in dieser gekonnten Form noch nie in Deutschland gedreht worden, und es scheint um so bemerkenswerter, als man feststellen muß, daß dieser Verdienst einer 26-jährigen Dame zuzubilligen ist, die bislang der einzige weibliche Regisseur bei uns ist. Ihr Name ist MAY SPILS, ein großartiges Regietalent. WERNER ENKE („Mord und Totschlag“) ist der sympathisch gammelnde Texter, trockenhumorig, ein mürrischer Spinner. Enke zeigt eine komödiantische Begabung, die überrascht und vielversprechend für kommende Aufgaben ist. Er mimt den Burschen mit der ausgeprägten Furcht vor irgendwelchem Engagement überzeugend. Es gelingt ihm in jeder Szene, den richtigen Ton für seine Suppenkaspertype zu finden.
Seine Mitstreiter HENRY VAN LYCK, die bezaubernde USCHI GLAS und in einer Nebenrolle HELMUT BRASCH (großartig als Schallplattenproduzent und Freddy-Imitator) ergänzen ein Team, dem es zu bestätigen gilt, einen wundervollen, völlig unkonventionellen Film gedreht zu haben, der zu Recht das Prädikat „wertvoll“ erhalten hat.
Wer sich diesen Film nicht ansieht, dürfte einen der besten deutschen Nachkriegsfilme versäumen. HUP

P.S.: „ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN“ kam damals auf 6,5 Millionen Kinozuschauer; erhielt 3 BUNDESFILMPREISE (für May Spils und Werner Enke; für Regie, Darstellung + Dialoge); bekam die „Goldene Leinwand“ und den Kritiker-Preis der 15 führenden einheimischen Filmkritiker an May Spils für den „Besten Gegenwartsfilm einer deutschen Produktion“. (= 4 1/2 PÖNIs).

Anbieter: „Ascot Elite Home Entertainment“

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