MR. MAY UND DAS FLÜSTERN DER EWIGKEIT

PÖNIs: (4,5/5)

„MR. MAY UND DAS FLÜSTERN DER EWIGKEIT“ von Uberto Pasolini (B + R; GB/Italien 2012; K: Stefano Falivene; M: Rachel Portman; 92 Minuten; deutscher Kino-Start: 04.09.2014); ER zählt zu den überragenden britischen Charakter-Darstellern, fiel aber bislang eher in „nur“ grandiosen Nebenrollen auf: EDDIE MARSAN, 1968 in Bethnal Green im Osten von London geboren. Ein bärenstarker untersetzter Typ, der in jede Figur präsent wie charismatisch ‘reinzuschlüpfen versteht. Wie einst der sagenhafte Philipp Seymour Hoffman, dessen kurze, aber beispiellose Karriere sich ja auch über die (Film-)Jahre kontinuierlich hochentwickelte. In „Happy-Go-Lucky“ war er 2008 der griesgrämig-hysterische Fahrlehrer Scott (s. Kino-KRITIK); in „Spurlos – Die Entführung der Alice Creed“ (s. Kino-KRITIK), bei uns 2011 gleich im Heimkino herausgekommen, war er der diabolische Kriminelle Vic und in dem köstlich-scherzhaften Komödien-Horror „The World’s End“ mimte er im Vorjahr den Jugendfreund-Trottel Peter Page. Eigentlich müsste man fast jeden seiner vielen Auftritte seit seinem Karriere-Start erwähnen (zum Beispiel auch in „Vera Drake“/2004, wo er als „Bester Nebendarsteller“ den „British Independent Film Award“ gewann), denn dieser EDDIE MARSAN ist ein darstellerischer Gigant. In dessen Gesicht man auch einen melancholischen (und leider kürzlich auch verstorbenen) Robin Williams/“Der Club der toten Dichter“ entdecken kann.

Der jetzt – endlich – seine „große Bühne“ bekommt. In „Still Life“, einer etwas älteren Produktion, die uns Gott sei Dank doch noch im Kino erreicht. Eddie Marsan als Mr. May. Ein korrekt aussehender britischer Anzug-Bürger (mit Krawatte); Marke: eher unscheinbar, unauffällig und stets mit Aktentasche unterwegs. John May arbeitet im Londoner Bezirksamt von Kennington, Abteilung Kundenservice. In einem kühl-sterilen kleinen untergeschossigen Büro, in dem sich zahlreiche Aktenregale befinden. Dort ist er zuständig für das Aufspüren von Angehörigen für Menschen, die allein verstorben sind. In den meisten Todesfällen stellt sich heraus, dass es keine Angehörigen gibt. Also legt Mr. May eine Akte an, arrangiert eine würdevolle Beerdigung, die er immer diskret begleitet. Er sorgt für die „passende“ Abschiedsmusik (anhand des zum Beispiel „musikalischen Nachlasses“) und für die angemessene Grabrede des Pfarrers, die er selbst (nach den aufgefundenen Unterlagen) verfasst hat. Mr. May hat viel zu tun. Was bis in sein Privatleben reicht, denn dort führt der Alleinlebende, der in einem ebenso kühl-sterilen Appartement „korrekt“ wohnt (Motto: alles an seinem Immer-Platz), einen umfangreichen Bild-Band mit „seinen Toten“. In das er sich ab und an abendlich vertieft. Inne hält. Um ihrer zu gedenken. Dabei ist John May kein Spinner. Durchgedrehter. Sondern ein Mensch, der es sich zur (Lebens-)Aufgabe gemacht hat, Mitmenschen würdevoll zu verabschieden. Anonymen ein Erinnerungsgesicht zu geben. Mit Respekt und menschlicher Würde. Und mit den humanen Ritualen der Trauer.

Mr. May ist ein kleiner großer Mann. Der nicht viele Worte benötigt. Dafür sprechen seine „interessierten Augen“. Kurz, knapp, bündig. Verständlich. Selbstverständlich. Menschlich. Irgendwann aber ist Schluss. Nach 22 Amtsjahren und nach Meinung seines jungen Vorgesetzten. Der im Auftrage der Stadtverwaltung diesen Posten in dieser „kompletten Ausführung“ von Mr. May für zu kostenintensiv hält. Sein Aufgabengebiet soll künftig „moderner“ platziert werden. Rationeller „wirken“. „Das ist doch die Chance, eine neue Arbeit mit lebenden Menschen zu finden“, witzelt der arrogante Chef. Seine Nachfolgerin wird künftig „schneller“ sein. Sprich – nicht „so“ wie Mr. May ins Detail gehen, sondern einfach gleich zwei Urnen auf einmal über einer Grab-Wiese verstreuen. Das effektivere Basta-Prinzip. Unserer modernen Billig-Gesellschaft. Doch noch beschäftigt Mr. May ein letzter Todesfall. Ein offensichtlich asozialer Mann aus der unmittelbaren Wohn-Nachbarschaft von ihm weckt nochmals sein intensives Interesse, seinen korrekten Fleiß. Denn der Verstorbene scheint „Anhang“ zu haben. Verwandte. Bekannte. DIE es nun schnellstens zu ermitteln gilt. Anlässlich dieser letzten Lebensspurensuche allerdings ergeben sich ungeahnte „Erlebnisse“. Für diesen akribischen, liebenswerten, warmherzigen, einfühlsamen Menschen-Bruder Mr. John May.

Der 55-jährige italienische Produzent („The Full Monty – Ganz oder gar nicht“/1997), Drehbuch-Autor und Regisseur (Debüt 2008: „Machan – Spiel der Träume“) UBERTO PASOLINI, ein adliger Ex-Investment-Banker, der nicht mit Pier Paolo Pasolini verwandt, aber ein Neffe von Luchino Visconti ist, hat ein sehr stimmungspräsentes, schwarz-schönes und herrlich lakonisches britisches Seelen-Kino geschrieben und inszeniert. Mit ganz feinen pointierten Zwischentönen. Sowie einem köstlich-ironischen gesellschaftlichen Briten- und melancholischem Typen-Humor. Völlig unaufgeregt, in einer faszinierenden Ruhe, ohne zu deprimieren. Ganz im Gegenteil – mit sehr viel lächelndem Sinn-Gefühl inmitten einer außergewöhnlichen Stimmungslage. Samt einer ebenso schönen wie angenehm behutsam eingesetzten Begleitmusik der „Oscar“-Komponistin RACHEL PORTMAN („Emma“). Inmitten dieses tragikomischen Universums. In dem sich EDDIE MARSAN als John May wunderbar zurückhaltend wie körpersprachlich phantastisch bewegt. Es ist SEINE erste GROSSE und SEHR BEWEGENDE „komplette“ Performance. Er ist in jeder Szene mit dabei und präsentiert eine ungeheuer berührende Ausstrahlung und liebenswerte Kraft: Und erinnert am erstaunlichen Seelen-Ende sogar insgesamt wie brillant an „The Tramp“, den einzigartigen Charles „Charlie“ Chaplin.

Bei dieser gefühlvoll ausbalancierten fulminanten klein-großen Leinwand-Prächtigkeit. In Sachen Menschlichkeit und Spaß. Und umgekehrt (= 4 ½ PÖNIs).

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