MANCHESTER BY THE SEA

PÖNIs: (4,5/5)

„MANCHESTER BY THE SEA“ von Kenneth Lonergan (B + R; USA 2015; Co-Produzent: Matt Damon; K: Jody Lee Lipes; M: Lesley Barber; 137 Minuten; deutscher Kino-Start: 19.01.2017); Manchester-by-the-Sea ist eine Stadt, die an der nördlichen Küste von Massachusetts, auf Cape Ann, liegt. Die nächste größere Metropole ist das rd. 39 Kilometer entfernte Boston. Hier hat Drehbuch-Autor und Regisseur KENNETH LONERGAN seinen dritten Spielfilm – nach „You Can Count on Me“ (2000/“Oscar“-Nominierung) und „Margaret“ (2011) – angesiedelt. Übrigens: Für sein Drehbuch zu dem Martin Scorsese-Drama „Gangs of New York“ erhielt Kenneth Lonergan 2003 ebenfalls eine „Oscar“-Nominierung. Mit seinem aktuellen und vielfach nominierten wie ausgezeichneten Drama, das im letzten Januar auf dem renommierten „Sundance“-Festival Premiere feierte, wird dieser New Yorker Filmemacher des Jahrgangs 1962 endlich größer bekannt.

Das liegt zuallererst an seinem Hauptdarsteller: CASEY AFFLECK. Der jüngere Bruder von Ben Affleck hatte seinen Durchbruch, als er 2007 in „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“ an der Seite von Brad Pitt eben jenen schurkischen „Feigling“ überragend interpretierte (s. Kino-KRITIK) und mit einer „Oscar“-Nominierung belobigt wurde. Danach war er in Spannungs-Movies wie „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“, „The Killer Inside Me“ oder „Auge um Auge“ dämonisch-präsent unterwegs. Hier aber erreicht er Olymp-Qualität und ist nach der „Golden Globe“-Auszeichnung auch für die „Oscar“-Statue-demnächst Favorit.

Casey Affleck als Lee Chandler. Ein schweigsamer Bostoner Hausmeister und Eigenbrötler, der für jedwede Schmutz-Beseitigung bzw. Reparatur zuständig ist. Sich nie beschwert, sondern seine Auftragsarbeit zu aller Zufriedenheit verrichtet und sich dann trollt. Eine gewisse Anspannung ist dem Kerl ins Gesicht geschrieben; es brodelt offenbar in ihm, und tatsächlich: Manchmal kann er sich nicht mehr zurückhalten und prügelt in der Kneipe einfach so drauflos. Danach tapert er wieder stoisch wie gehabt durch seine ihm offenbar egale Stillstand-Existenz.

Der Tod seines Bruders Joe zwingt Lee, in seine Heimatstadt Manchester-by-the-Sea zurückzukehren. Die Bürokratie muss erledigt werden, der Nachlass ist zu regeln. Aber: Nicht nur, dass Lee hier offenbar einen zweifelhaften Ruf genießt, was seine zunehmende Verstörung erklärt, hier existiert für Lee offenbar auch noch eine Menge verbrannter Erde und: Er muss nun auch mit dem letzten Wunsch seines Bruders klarkommen: Lee soll die Vormundschaft für seinen 16-jährigen Neffen Patrick (LUCAS HEDGES) übernehmen. Was bedeutet, hier erst einmal für eine Weile festzusitzen. Denn der Halbwüchsige weigert sich, Manchester zu verlassen und seinem Vormund nach Boston zu folgen. Lee wehrt sich dagegen, hierbleiben zu müssen, weil er ahnt, emotional dem Erinnerungs-Ganzen an diesem Ort nicht gewappnet zu sein. Denn mit dem Aufenthalt-hier kommen die schlimmen Erinnerungen der Vergangenheit hoch. Und diese hat Lee längst noch nicht verarbeitet, sondern nur zugeschüttet.

Trauer. Aber nicht marktschreierisch, mit schließlich „bunten Lösungen“, sondern diskret. Sensibel. Unendlich empfindsam ausgedrückt. Intensiv. Nahegehend. Im höchsten Gefühlsgrade Menschen-spannend. Trauer-Poesie. Ungeheuer berührend. Tief ausgegraben, dennoch mit sehr viel Anmut und Humor erzählt. Ohne Gut-Böse-Figuren, jeder hier tut sein Bestes, tritt besonnen auf. Aber da bestehen noch eine Menge riesiger Bauklötzer, die es erst einmal zu beseitigen gilt. Vor allem für Lee Chandler.

CASEY AFFLECK, 40: mit jeder Bewegung, jedem Atemzug, jeder Haut-Pore eine authentische wie präsente Lee-Identität. Sein Part ist eine außerordentlich überzeugende psychologische Performance. Sein Lee „funktioniert“, aber lebt lange Zeit nicht. Mehr. Diesen emotionalen Zwiespalt glaubhaft, also ohne Übertreibung, hinzukriegen, gelingt Casey Affleck wunderbar eindringlich. Während das Ensemble dieser eigenwilligen, reizbaren Stimmung ebenfalls großartig folgt, allen voran MICHELLE WILLIAMS („Blue Valentine“; „My Week with Marilyn“; „Station Agent“) als Lees Ex-Frau Randi.

Ein starkes Stück großes schönes intensives Gefühls-Kino. Lange nicht mehr so viel empfunden (= 4 ½ PÖNIs).

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