LETO

„LETO“ von Kirill Serebrennikow (CO-B + R; Russland/Fr 2017; Co-B: Mikhail Idov; Lily Idova; K: Vladislav Opelyants; M: Roman Bilyk; 128 Minuten; überwiegend Schwarz-Weiss; deutscher Kino-Start: 08.11.2018); ich höre noch, wie der DDR-Ulbricht 1965 auf dem XI. Plenum des ZEK der SED verkündete: „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen“.

Leningrad, ein Sommer, Anfang der 1980-er Jahre. „Sowjetische Rock-Musiker müssen sich stets darum bemühen, das Gute im Menschen zu finden,und sie müssen eine aktive soziale Rolle spielen!“ klärt die Frau Zensorin auf. Bei der „aktive“ örtliche Rock-Musiker ihre Texte vorlegen müssen, bevor diese auf die Bühne dürfen. Während Alben von Lou Reed („Perfect Day“) und David Bowie oder Iggy Pop („Passengers“) heimlich die Besitzer wechseln und zu Coverversionen einladen, brodelt die Underground-Rockszene. Unaufhörlich. Mike Naumenko (ROMA ZVER) ist – mit seiner Band „Zoopark“ – so was wie „der Boss“ der Scene-hier, gemeinsam mit seiner Ehefrau Natascha (IRINA STARSHENBAUM). Wenn man etwas bewegen will, läuft nichts ohne den charismatischen Front-Musiker. Er weiß, wie man Auftrittsgenehmigungen bekommt und der Zensorin schmeichelt. Bei einem Fest am See lernen sie den jungen Songwriter Viktor Zoi (TEO YOO) kennen. Und verhelfen ihm zu Auftritten. Zugleich entwickeln sich intime Bande zwischen Natascha und dem smarten koreanisch-stämmigen Nachwuchstalent. Im Vordergrund aber bleibt die nicht mehr aufzuhaltende, nicht mehr unter den amtlichen Teppich zu kehrende Lust nach „eigenem“ Rock ’n‘ Roll. Trotz der strengen Kontrollmaßnahmen gelingt den „unruhigen“ Protagonisten immer mehr, ihr heimliches eigenbestimmtes Begehren durchzuführen („Man soll so leben wie man will und nicht wie Andere es einem sagen“). Viktor gründet eine Band mit dem Namen „Kino“, seine Musik wie seine Texte werden populär („Erde. Himmel. Zwischen Erde und Himmel – Krieg. Und wo du auch bist und was du machst: Zwischen Erde und Himmel ist Krieg!“).

1990 kommt Viktor Zoi bei einem Autounfall – im Alter von, natürlich: 28 Jahren – ums Leben.

Als der Film von Regisseur KIRILL SEREBRENNIKOW im Mai beim Festival von Cannes seine Welturaufführung hatte und die Begeisterung groß war, blieb der Platz für den russischen Filmemacher und anerkannten Bühnenregisseur leer. Im August 2017, noch vor Ende der Dreharbeiten, wurde er Zuhause festgenommen. Mit einer fadenscheinigen geldlichen Unterschlagungsanklage. Sein Hausarrest wurde bereits bis April 2019 verlängert. Sein Prozess beginnt in Moskau in diesen Tagen. Allgemein gilt die – internationale – Ansicht, dass hier einmal mehr ein liberal denkender intellektueller Geist eingeschüchtert und mundtot gemacht werden soll. Die fehlenden Film-Szenen damals entstanden nach schriftlichen Anweisungen Serebrennikows, die über Anwälte zu seinem Team kamen; montiert hat er den Film an einem Computer ohne Internetzugang.

Die sowjetischen Achtziger. Kurz vor der Perestroika. Kommen einem vor wie die schwarz-weißen 68-er West-Zeiten. Der „nervöse“ Nachwuchs lässt sich kaum noch unterdrücken. Serebrennikow gibt sich phantasievoll, um den damaligen Leningrader Underground ebenso wild wie melancholisch auf die Leinwand zu bannen. Inszeniert „Psycho Killer“ von den „Talking Heads“ als sensationelle Musical-Nummer in einem Zug: Männer fliegen durchs Abteil; die Licht-Konturen explodieren; Animationen unterstützen die wilden Bilder, bahnen sich ihren Show-Weg. Und über allem schwebt und wirbelt IRINA „Natascha“ STARSHENBAUM wie eine junge Anna Karina, der Godard-Star aus den Sechzigern („Eine Frau ist eine Frau“; „Elf Uhr nachts“). Zärtlich, selbstbewusst, von wunderschöner emotionaler Kraft. Und irgendwie passt auch „Jules und Jim“ von Francois Truffaut in diese Erinnerungsstimmung. Wo der Katalysator allgegenwärtig auf den befreienden Rock ’n‘ Roll eingestimmt ist.

Man müsste noch vieles nennen, um diese einzigartige Atmosphäre des konsequenten Aufbruchs zu beschreiben, inmitten der baulichen wie menschlichen Ruinen; mit dem Punk des Alltags, der sich unaufhaltsam politisiert, aber die Empfehlung gilt: „LETO“, „Sommer“, ist ein globaler Film-Hammer. Damals wie heute voll zu übernehmen, und heute – in Russland – schon wieder SEHR gefährlich-bedeutsam. Während des Abspanns läuft ein Song aus dem „Schwarzen Album“ von der Gruppe „Kino“, das nach Zois Tod im August 1990 veröffentlicht wurde: „Ich warte auf Antwort. Hoffnung gibt es nicht mehr, bald endet der Sommer“. (= 4 1/2 PÖNIs).

 

 

 

 

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