„JENSEITS VON GOLZOW“ von Barbara und Winfried Junge (DDR 1964 bis 1990; Doppel-DVD; Gesamtlänge: 442 Minuten; Heimkino-VÖ: Ende März 2019); Untertitel: 15 Filme zum Leben und Lernen, Wachsen und Werden in der DDR und anderswo.
Es war, wie man später so golden zu sagen pflegt, eine prägende Sternstunde im Leben. Anfang der 1980er Jahre. Im WDR-Fernsehen läuft ein Dokumentarfilm aus der DDR. Das alleine war schon überraschend. Aber: Dieser Film war auch noch 257 Minuten lang. Titel: „Lebensläufe – Die Geschichte der Kinder von Golzow in einzelnen Porträts“. Dieser Film hat mich nicht nur neugierig gemacht, sondern auch „bekehrt“. „Süchtig“ gemacht. Ab sofort wollte ich alles wissen, erfahren, was es mit dieser DDR-Dokumentarfilmreihe „DIE KINDER VON GOLZOW“ auf sich hat. Und nach der Wende war es ein dringendes persönliches Bestreben, dieses filmende Ehepaar baldmöglichst kennenzulernen: Barbara und Winfried Junge. Was mir auch bald gelang. Heute darf ich sie zu meinem engsten Freundeskreis zählen. Ich bewundere und verehre sie, denn: was SIE filmisch über die Jahrzehnte geschaffen haben, ist einmalig. Überzeugend-großartig. Dokumentarisch überragend. Und eben auch: sehr unterhaltsam.
Für mich sind „Winne“ und Barbara Junge die bedeutendsten Dokumentarfilmer des letzten Jahrhunderts. In insgesamt 20 Filmen, von 1961 bis 2007, in rund 45 Stunden Laufzeit, begleiteten sie – ER seit dem Beginn 1961, SIE ab 1978 im Team – die Lebenswege von 18 Menschen der Jahrgänge 1953 bis 1955 aus der Gemeinde Golzow im Oderbruch im Landkreis Märkisch-Oberland (heute mit Zusatztitel: Ort der „Kinder von Golzow“). Dabei ergaben sich – neben den individuellen Lebens-Porträts – auch tiefe, ungeschönte Einblicke in den Alltag der DDR, in „das Alltägliche“, mit der schließlichen Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland. Die Filme sind inzwischen zu einem GESAMTWERK digital aufbereitet worden und in einer 3er-DVD-Box mit 18 Kassetten erhältlich. Zwei Bände – „Lebensläufe“ sowie „Und wenn sie nicht gestorben sind“ – runden dieses ungemein interessante Fleißwerk literarisch ab.
In der Kino-Kritik über den 1993 erschienenen Golzow-Film „Drehbuch – Die Zeiten“ ist einiges Grundsätzliches zum Thema zusammengefasst (s. Kino-KRITIK). Außerdem sind im Archiv – www.poenack.de – unter „Inside/Regisseure“ auch zwei (Rundfunk-)Berichte über Winfried Junge vom Februar und März 1993 gelistet.
Winfried Junge. Eine Geburtstags-Begegnung vor vier Jahren, zu seinem vitalen 80., löste in der stimmungsvollen Runde die Frage aus, was hast DU eigentlich „außerdem“ noch gemacht? Gefilmt? Also „Jenseits von Golzow“? Woraufhin die Idee entstand, diese Filme „zu retten“. Digital aufbereiten zu lassen, um sie dann zu veröffentlichen. Es dauerte, bis viele Gutwillige mit ins Boot kamen, jetzt ist die Doppel-DVD, mit mehr als 550 Seiten Begleitmaterial, erschienen. Herausgegeben von der DEFA-Stiftung. Die Box enthält ein breites Spektrum aus dem „anderen dokumentarischen Schaffen“ der Junges. Von „Studentinnen“ (1965) an der TH Ilmenau über „Auf der Oder“ (1968), mit Beobachtungen im Eiswinter, bis hin zu Reportagen aus fernen Ländern: „In Syrien auf Montage“ (1970); „Somalia – Die große Anstrengung“ (1976) oder „Gruß aus Libyen“ (1988). Entdeckungsreisen, verknüpft mit (wie wir heute wissen: trügerischen) Hoffnungen auf eine „austauschfähige“ friedliche Welt. Dazu heitere, skurrile Feuilleton-Einblicke, etwa bei „Wenn jeder tanzen würde, wie er wollte – na!“ (1972) über Teenager in einer Tanzschule oder „Das Pflugwesen, es entwickelt sich“ (1986) über eine Meisterschaft im Wettpflügen. Mit dabei auch ein Kleinod aus Berlin mit „Keine Pause für Löffler“ (1973), wo ein junger bärtiger Lehrer vor seiner Klasse in Weißensee agiert. Mit dem Versuch, auf antiautoritäre Weise Lernbereitschaft zu motivieren. Wobei auch ein ironischer Kommentar des Schriftstellers Uwe Kant hervorsticht, der Widersprüche als etwas Produktives interpretiert und den Betrachter zu Diskussionen einlädt. „Ein Film, der Fenster aufstieß, frische Luft in die Stuben der Volksbildung ließ“, urteilt Journalisten-Kollege Ralf Schenk („Berliner Zeitung“; 02.05.2019).
„Im Reigen dieser lose zusammengestellten Filme manifestiert sich immer wieder Junges frühes Arbeitscredo: ‚Ehe wir gestalten, wollen wir beobachten lernen, wollen lernen, nicht die Wirklichkeit unserer Vorstellungen dienstbar zu machen, sondern umgekehrt uns in den Dienst der Wirklichkeit zu stellen‘. Der 1935 in Berlin geborene Filmemacher wollte immer schon ‚ein bescheidener Diener‘ der Realität sein, keineswegs ein linientreuer SED-Protegé, der sich mit seinem dokumentarischen Oeuvre bei den Machthabern anbiedert“, schreibt Simon Hauk im digitalen „Film-Dienst“. (05.05.2019).
Nahe gehende, informative, historisch einzigartige, lebendige Geschichten zum Annehmen, Aufnehmen, als praktischer, spannender Geschichtsunterricht. Kostbare Momentaufnahmen aus einer Zeit, als der menschenfreundliche Willen und das politische Wollen zum friedlichen Aufbau und humanen Wachstum noch möglich schienen.
Wie schon die Golzow-„Hits“: Auch „JENSEITS VON GOLZOW“ ist als filmischer Geschichtsunterricht der Superlative eine phänomenale, epochale Beobachtung und Erinnerung (= 5 PÖNIs).
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