HÜTER DER ERINNERUNG – THE GIVER

HÜTER DER ERINNERUNG – THE GIVER“ von Phillip Noyce (USA 2013/2014; B: Michael Mitnick, Robert B. Weide; nach dem gleichnamigen Roman von Lois Lowry/1993; K: Ross Emery; M: Marco Beltrami; 97 Minuten; Start D: 02.10.2014); wäre das nicht herrlich? Oder furchtbar?: Wir leben in einer Welt, in der ALLES „in Ordnung“ ist. Schön aussieht. Sauber gekehrt ist. Probleme existieren nicht. Kriege sind unbekannt. Ebenso Armut und überhaupt Gewalt. Stattdessen leben die Menschen, die jeden Morgen eine Injektion „zu sich nehmen“, unter einer gemachten Wohlfühl-Glocke. Ohne Persönlichkeit, ohne jedwede Individualität. Sie kennen weder Farben noch übermäßige Freude oder Gefühle wie Liebe, Zorn oder Trauer; alles ist und wirkt fein-grau. Abgestimmt. Genormt. Planmäßig. Eben – in völliger ruhiger Ordnung.

Irgendwann war ES offensichtlich zu viel. Innerhalb des Planeten, unter den Erdbewohnern. Das mit dem Zerstören. Ressourcen radikal abbauen. Mit Krankheiten, Kriegen, Verwüstungen. Dem Vernichten von vielem Anständigen. Die neu geschaffene Welt hat damit aufgeräumt. Hat alle Erinnerungen ausgelöscht. Gedanken an ein Gestern und Vorgestern, an die Historie, an das Private, existieren nicht. Ein RAT DER ÄLTEREN bestimmt über das Sein und Existieren; von der Geburt über die Hochzeit bis zum Tod. „Beobachtet“ alles. Hat Regeln ausgerufen, die nicht infrage gestellt werden. Können. Kinder werden von Leihmüttern ausgetragen und den Eltern entzogen, wenn sie für eine der Gemeinschaft dienenden Aufgabe „reif“ sind. Aber auch: „Störende“ Säuglinge (ohne „Chancenaussichten“) und entkräftete Alte werden diskret wie selbstverständlich „entsorgt“. Schließlich: Big Mama is Watching You!

EINER aber weiß Bescheid. Genannt: „Der Hüter der Erinnerung“ (JEFF BRIDGES). Er besitzt als Einziger das gesamte wie verdammte Wissen der Menschheit. Stellvertretend. Ist Berater des Ältestenrates. Mit ihrer maliziösen Hologramm-Chefin (MERYL STREEP: „Wenn Menschen frei entscheiden, entscheiden Sie falsch. Jedes Mal“). Als sein Nachfolger wird gerade Jonas (BRENTON THWAITES) inthronisiert. Ein intelligenter, sensibler Bursche. Der die Ausbildung durch den Noch-Amtsinhaber jedoch kaum verkraftet. Trifft er doch plötzlich wie wuchtig auf solch unbekannte Motive wie Liebe, Familie, Nähe, aber auch Krieg, Verderben, barbarischer Tod. Begegnet einer ganz anderen Welt. Völlig unvollkommen. Voller Schönheit wie Aggressionen; voller Zuneigung und Hass. Voller Vergnügen und Schmerz. Voller Spaß und Trauer. Voller Enthusiasmus. Die Aufklärung macht Jonas mehr und mehr „süchtig“. Und gefährlich. Für das System. Zumal er – das erste Mal in seinem Leben – Zuneigung empfindet. Sich verliebt hat. Ein Rebell erwacht.

Ein philosophischer Fiction-Thriller. In einer Art klaustrophobischer Baukasten-Architektonik aufgemöbelt, die jedwede Enge signalisiert. Erklärt. Mit atmosphärischen Anklängen an „1984“ von George Orwell. EINER rebelliert. Gegen die Diktatur des Staates. Mit seiner verordneten Zufriedenheit. Und der gesellschaftlichen Ruhe. Der braven Gleichheit.

Der australisch-stämmige Regisseur PHILLIP NOYCE, der sich mit Filmen wie „Todesstille“ (1989/mit Nicole Kidman), „Die Stunde der Patrioten“ (1992/mit Harrison Ford), „Der stille Amerikaner“ (2002/mit Michael Caine) und natürlich mit dem Blockbuster „Salt“ (2010/mit Angelina Jolie) einen hervorragenden Branchen-Namen als Genre-Experte gemacht hat, benötigt hier eine (anfangs schwarz-weiße) Weile, bevor er in das gesellschaftspolitische Thema hineinfindet: Der „gecoachte“ Fertig-Mensch.

Gestern, heute, vielleicht bald. Oder gerade? Der geführt, gelenkt und fremdbestimmt sein – und bleiben – soll. Freiheitlicher Zwang für die Masse der Untertanen. Die Elite wird’s schon wohlgefällig richten. Warum Gedanken machen? Gar aufregen? Nicht wahr, fragt dieser Streifen listig. Der als unterhaltsamer Hollywood-Streich erfreulich viele reizvolle, anregende Gedanken mitliefert.

Bei der Sneak-Preview, in der ich den Film sah, blieben fast alle „Kiddies“ bis zum Ende sitzen (= 3 PÖNIs).

 

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