HÜHNCHEN IN ESSIG

HÜHNCHEN IN ESSIG“ von Claude Chabrol (Co-B+R; Fr 1984; 110 Minuten; Start D: 03.10.1985).

Die Geschichte ist hinlänglich bekannt und doch wieder aufs Neue verzwickt und fein zubereitet. In einem französischen Kleinstadt-Kaff haben alle Dreck am Stecken, die einen mehr, die anderen weniger. Aber die, die hier gesellschaftlich den Ton angeben, die am Angesehensten sind wie der Arzt, der Notar und der Schlachter (man beachte diese “pikante“ Personenkonstellation mit einem “aufgestiegenen“ Arbeiter) sind die Schlimmsten. Sie spekulieren auf ein baufälliges altes Haus, in dem eine an den Rollstuhl gefesselte Madame über ihren 20-jährigen Sohn und die schlimme Moral der Gemeinde wacht (was für eine lustvolle schauspielerische Wandlung in eine hysterische Glucke: STEPHANE AUDRAN, Chabrols ständige Film-Begleiterin und Ex-Ehefrau) und trotz lukrativer finanzieller Verlockungen gar nicht daran denkt zu verkaufen.

Dann verschwindet mittenmal die wohlhabende Frau des Arztes, von der verlautet, dass sie sowieso schon weg wollte, samt ihrem Vermögen; und plötzlich verunglückt auch der Schlachter mit seinem Wagen auf mysteriöse Weise. Aber damit nicht genug, schließlich ist auch von der reizenden Anna nichts mehr zu sehen, die sich gerne von denen aushalten ließ, die sie sich leisten konnten. Das ruft natürlich einen Inspektor aus Paris auf den Plan, der diese ganze Bagage nach einem guten Frühstück – jeden Morgen zwei Spiegeleier mit Milchkaffee, voriges Jahr hat er die 30.000 bereits verfuttert – unter die Lupe nimmt. Aber dieser Lavardin (Jean Poiret), zwar immer sehr freundlich und hilfsbereit auftretend, jedoch in der Praxis das ganze Gegenteil eines feinfühligen Maigret-Nachfolgers, tritt zunächst auch nur auf der Stelle herum. Nur als er dann ganz gnatschig wird und sich mehr und mehr der Methoden seiner Widersacher bedient, siegt doch die Gerechtigkeit. Jedenfalls beinahe.

“Ich verlange vom Film, dass er mir etwas aufdeckt“, erklärte einmal der Spanier Luis Bunuel, der als Filmregisseur selbst ja ein passionierter Entdecker war. Und das wiederum passt sehr wohl zu CLAUDE CHABROL: “Mein Ziel ist es, den Wahnsinn der Großbourgeoisie zu zeigen. Die Mehrzahl der Großbürger ist verrückt“, ließ er schon 1966 anlässlich der Dreharbeiten zu “Le Scandale“ (“Champagnermörder“) verlauten. An dieser Einstellung hat sich bis heute nichts geändert. In seinem Bemühen, hinter die finsteren Machenschaften derer zu leuchten, die es sich leisten können trotz Schwächen und Macken, trotz Machenschaften und Verbrechen das Sagen zu haben und zu behalten, wartet Claude Chabrol mit noch immer fein gesponnenen Spannungsmomenten und ironisch-kulinarischen Polit-Spitzfindigkeiten auf, die gleichsam rebellieren wie amüsieren. “Was ich möchte, ist unsere gegenwärtige Gesellschaft in ihrer totalen Verwesung zu zeigen. Da diese Verwesungserscheinungen jedoch luxuriös ausstaffiert sind, macht es richtig Spaß, sie zu filmen“, äußert sich der couragierte Hitchcock-Liebhaber in dem ihm gewidmeten Filmband 5 der ‚Hanser-Reihe‘ zum Thema Mut.

Chabrol ist mittlerweile 55 und immer noch kein bisschen zurückhaltender und weiser, ganz im Gegenteil. Er pisakt auf seine vergnüglich-altmodische Weise ja immer noch. Der hintergründig-bissige Anmacher und Angreifer lässt auch 1985 schon mal seinen Bullen überzeugend von sich geben: “Ach mein kleiner Junge, man kann alles, wenn man bei der Polizei ist!“ Er schütte wieder mit seinem eingespielten Team vor und hinter der Kamera ein bisschen Benzin ins allerdings nun nicht mehr so aggressiv lodernde Gesellschaftsfeuer und konstruiert daraus ein ebenso raffiniertes wie köstliches kleines Kino-Gericht, das sich aus der bewährten Mixtur dunkler Geschäfte, falscher Leichen und schäbiger Gefühle zusammensetzt. Ein Spiegelbild der Wirklichkeit also oder doch nur Kunst-Fassade? Auch darauf hat Chabrol, wieder zitiert aus dem ‚Hanser-Band‘, die passende Antwort parat: “Das Filmen einer erdachten Geschichte kann wirklichkeitsgetreuer sein als das Drehen der Wirklichkeit selbst. Das hängt allein davon ab, wo man sich und die Kamera aufbaut“ (= 4 PÖNIs).

 

Teilen mit: