DER BESUCHER (DE SMAAL VAN WATER)

PÖNIs: (5/5)

„DER BESUCHER (DE SMAAK VAN WATER)“ von Orlow Seunke (Co-B + R; NL 1982; Co-B: Dirk Ayelt Kooiman; nach dem Roman „Der Besucher“ von Gyorgy Konrad/1969; K: Albert van der Wildt; M: Maarten Koopman; 100 Minuten; deutscher Kino-Start: 06.05.1983; s. auch Regisseur-INTERVIEW); ist ein niederländisches Debüt, das hierzulande erstmals während der vorjährigen Hofer Filmtage, damals noch unter dem englischen Titel „The Taste of Water“ (Der Geschmack des Wassers), bekannt und sogleich mit viel Zustimmung und Lob überhäuft wurde. Es erzählt von dem Beamten Hes (GERARD THOOLEN), der in irgendeiner dieser anonymen Super-Behörden tätig ist, die die gesellschaftlichen Sozialfälle verwalten. Der erste Blick fällt dort auf ihn und ein paar Leute, die hinter Gittern sitzen. Aber sie befinden sich keineswegs in einem Gefängnis, sondern eben auf einer Behörde. Kurz darauf klingelt es, ein Zeichen dafür, dass die Sprechzeit für die Bürger vorüber ist. Bürger, das sind hier die Minderbemittelten, die Schwachen der Schwächsten. Die Dauer-Opfer, die Hilfe- und Ratsuchenden. Kurz: die Abgeschriebenen einer modernen Zivilisationsgesellschaft. Die, die tagtäglich immer mehr werden. Und einem unfassbar unmenschlichen System unterliegen. Sie werden schon am Eingang (ab-)gestempelt. Danach verteilt ein Pförtner anonyme Nummernzettel, nach denen sie schließlich aufgerufen und in die Amtsräume eingelassen werden. Ein weiterer kalter Ort, an dem ihr Anliegen betreut beziehungsweise behandelt wird. Genau zehn Minuten lang. Bis es wieder heißt: „Der Nächste bitte!“ 

Dieser gefühlskalte behördliche Tempel manifestiert sich daraufhin immer mehr in Aktenstapeln, Ordnerbergen und den Arbeitsplätzen der Paragrafenreiter, für die Korrektheit über allem anderen steht. Eines Tages wird Hes ein „Neuer“ zugeteilt. Ein Anwärter. Er soll ihn in die Geheimnisse und Gepflogenheiten des öffentlichen Dienstes einweihen: „Man kann die Menschen nicht verändern, man kann nur die Umstände ein wenig verbessern! Das hat oberste Priorität. Das ist das Einzige, was zählt“, beendet Hes seine skurrile erste Einleitung. Routiniert und bewährt folgt er täglich diesem Mantra, geschätzt vom Chef. „Keiner weiß, warum die Dinge um uns herum geschehen. Was geschieht, geschieht. Natürlich, man könnte versuchen, dies alles zu begreifen, aber man darf sich nicht zu sehr engagieren dabei. Abstand ist einfach unerlässlich“, erklärt „der Profi“ dem Auszubildenden. Der jedoch hat noch Flausen im Kopf und spricht von möglichen Veränderungen, von persönlichem Engagement. Aber Hes hat seine Weisheit stets parat: „Ein Messer kann alles schneiden, außer sich selbst“. Eine reine Schutzbehauptung, die einen Panzer aufrecht-erhält, der den unsicheren Amtsmann schützt. Schicksalsergeben und gefangen in einer unbeweglichen Mentalität. Engagierte Einsatzbereitschaft: Fehlanzeige. Denn ein Staatstreuer wie er hat seine Lektion begriffen: Wenn ein Antragsteller vor einem sitzt, muss man frei von Emotionen sein. Alleine schon deshalb, weil es um öffentliche Gelder geht. Objektivität vor Mitgefühl. Klare Entscheidungen vor Empathie. Zuhören: ja. Anteilnahme: nein. „Natürlich würden wir alle gern anders handeln“, beruhigt sich Hes wieder einmal selbst, „aber wir haben zu wenig Zeit. Und zu wenig Geld und zu wenig Personal. Wenn man zu sehr auf sie eingeht, klammern sie sich an. Wie kleine Kinder. Je mehr man ihnen gibt, um so mehr wollen sie von einem. Wie gesagt, Distanz ist einfach unerlässlich! Also dann, bis morgen früh um acht“.

Formulare zählen an diesem skurrilen Platz also mehr als die Menschen „dahinter“. Allesamt anonyme Gesichter. Tote, triste Gestalten wie die meisten Protagonisten in Erzählungen großer Geister. Wie dem von Schriftsteller Franz Kafka (*03.07.1883 – †03.06.1924), dessen Dystopie-Beschreibungen früher ein ähnlich ver- und zerstörerisches Bild zeichneten.

Und dann ist ja da noch er: der Kollege Schram (JOOP ADMIRAAL). Die personifizierte Perfektion dieser Amtskälte. In ihm regt sich nicht mal mehr der kleinste Widerstand. Er denkt schon gar nicht mehr über das nach, was er tut, sondern tut es einfach. Kassiert dafür monatlich seine Prämie, sein Gehalt, sein Honorar. Er interessiert sich einen Scheißdreck darum, was er durch sein Tun anrichtet. Er, Schram, ist der Prototyp des braven, hörigen, obrigkeitsdienenden, treuen Staatsvertreters: Formularhörig, gut gekleidet, korrekt nach außen wie innen. Das Leid, das er damit produziert, das schiebt er auf „Oben“ ab. Menschlichkeit, auch wenn sie nur als kleiner Funke im Herzen brennt, ist ihm zuwider. Während es in Hes zu funkeln beginnt und ein neuer Umstand alles verändert.

Das Ehepaar Lukas ist gestorben, Hes kann einen Vorgang wieder einmal abschließen. In der Wohnung der Alten ist alles verdreckt, verkommen. Hes will gerade wieder gehen, als er aus dem Schrank Geräusche hört. Dort haust ein Mensch, die vierzehnjährige Tochter. Die anscheinend wie ein Tier gehalten wurde, die nicht sprechen oder lesen kann, die nicht sehen oder aufrecht gehen kann, die nichts an sich hat, was irgendwie menschlich ist. Ein Un-Mensch sozusagen, verloren und verdorben für alle Zeit. Bewertet Hes. Ganz klar: die Gesellschaftsordnung verlangt ihre Abschiebung in eine Anstalt. Unter „Ausschluss der Öffentlichkeit“, die am besten von so einem „widerlichen Wesen“, von solch einem barbarischen „Fall“, nichts mitbekommen soll. Um nicht verunsichert zu werden. Hes ist erschüttert. Er ist ehrlich betroffen. Zum ersten Mal nach langer Zeit geht ihm seine Arbeit an die Nieren. Als deutlich wird, dass sich weder die Familie noch die Nachbarn oder sonst wer persönlich um dieses Mädchen kümmern wird und Anna (DORIJN CURVERS) ihn als einzigen an sich heranlässt, merkt der Beamte Hes, dass er mittenmal mit etwas konfrontiert ist, dass sich grundlegend von seiner Alltagsroutine unterscheidet: Er muss sich wirklich EINsetzen, auf etwas EINlassen.

Und da er ahnt, was das mit sich bringen wird, im Kollegenkreis oder zuhause, hat er anfangs Skrupel und versucht wiederum, die inneren Mechanismen der Unterdrückung und Verdrängung in Gang zu setzten. Aber dieses Mal funktionieren die nicht, und Hes positioniert sich. In völliger Abkehr seiner bisherigen Rolle zieht er in die Wohnung, um Anna zu versorgen. Er geht nicht mehr ins Büro, gibt sein Zuhause auf und begibt sich genau in die Welt, zu der er bisher sorgfältig Abstand gehalten hat. „In einer Position wie deiner lässt man doch nicht einfach alles stehen und liegen“, versucht ihn Kollege Schram zurückzuholen. „Es kann sein, dass ich genau das Falsche mache“, sagt er zu seiner Frau, „aber ich muss, ich will es machen“. Und so wird Hes am Ende selbst zu einem Fall für die Bürokraten und ihre zahlreichen Helfershelfer. Allen voran Schram, der ein besonderes Auge auf ihn wirft. Der Druck nimmt zu. Fragen drängen sich auf: War es all das wert? Den Schmerz? Die Wut? Ja, denn ohne ALL DAS offenbart sich das, was wir „Leben“ nennen, nicht in seiner ganzen Schrecklichkeit und Schönheit.

DER BESUCHER, 1982 auf dem Festival von Venedig mit dem UNICEF AWARD als „Bestes Debüt“ mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet, erzählt auf einfühlsame Weise von einer in ihrer eigenen Verwaltung erstarrten, beziehungsweise eingesperrten Gesellschaft, in welcher Bürokratie mehr zählt als Menschlichkeit. In der ein Sozialarbeiter, dank eines hilflosen 14-jährigen Lebewesens lernt, wirklich „sozial“ zu sein. Die Begriffe „Persönlichkeit“ und „Anonymität“ beziehen hier unterschiedliche Position, welche der niederländische Regisseur ORLOW SEUNKE faszinierend filmisch diskutiert. Nach frenetischem Applaus auf den Filmfestivals von Hof und Venedig erhielt das Werk zudem viel Zuspruch auf vielen anderen, internationalen Veranstaltungen wie beispielsweise in Toronto oder Chicago. Ein gerechter Lohn für einen erstaunlichen Film, der keinen auf Mitleid begründeten Sozialfall schildert und es schon gar nicht auf die Verteufelung von beamteten Systemwerkzeugen abgesehen hat. Der Regisseur bezieht zwar deutlich Stellung, klagt aber nicht an. Sein Anliegen ist ebenso engagiert wie emotional: „In meinen Filmen versuche ich, Gefühle zu erwecken. Ich möchte mit Emotionen mehr erreichen als nur die Identifikation mit dem Hauptdarsteller. Die Technik, einen Film zu machen, ist nicht von schönen Aufnahmen abhängig. Mein einziges Kriterium für die Technik ist, so hart das auch klingen mag: Vermittelt sie Gefühle? Erzeugt sie Emotionen?“ Das dies hier so überzeugend und erschütternd gelang, verdankt Orlow Seunke nicht zuletzt der in der Tat unter die Haut gehenden Darstellung der Anna durch die hierzulande völlig unbekannte DORIJN CURVERS. Wie sie dieses behinderte, geschädigte Bündel Mensch interpretiert und spielt, ist bewundernswert und ergreifend. Da kommt kein falscher Ton auf, da ist man niemals auch nur in der Nähe von Peinlichkeit oder Plattheit.

„DER BESUCHER“, der Film, ist ein Meisterwerk vom niederländischen Nachbarn (= 5 PÖNIs).

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