Im Vorjahr zählte der Titel-täuschende US-Film „CAPTAIN FANTASTIC“ zu den besseren Werken des amerikanischen Kinos. Jetzt ist er für das Heimkino herausgekommen und bedarf unbedingt noch einmal der dringenden Empfehlung:
„CAPTAIN FANTASTIC – EINMAL WILDNIS UND ZURÜCK“ von Matt Ross (B + R; USA 2014; K: Stéphane Fontaine; M: Alex Somers; 120 Minuten; deutscher Kino-Start: 18.08.2016; Heimkino-Veröffentlichung: 30.12.2016); selten war ein Film-Titel dermaßen unglücklich, denn „Captain Fantastic“ ist keine Comic-Figur, der Film also auch keine Kraftmeierei-Adaption aus dem Hause Marvel & Co., und „Einmal Wildnis und zurück“ ist schlicht blöd. Jedenfalls für diesen hochinteressanten, beeindruckenden Spannungsfilm um „Zivilisation“ in unseren Tagen. Und seine ungewöhnliche Verwirklichung durch einen stark zusammenhaltenden Familienverbund.
Ben und seine Ehefrau Leslie. Keine Verweigerungs-Spinner, sondern „konkrete Träumer“. Haben sich vor langer Zeit in die Einsamkeit der Berge im Nordwesten der USA zurückgezogen, um hier, in einem selbst errichteten Refugium, künftig leben zu wollen. Weit weg von den Einflüssen der modernen Konsumkultur. Als Selbstversorger, über die Jagd und den Anbau von Gemüse. Ihre sechs Kinder sind hier geboren und wurden mit ungewöhnlichen Namen bedacht: Bodevan, Kielyr, Vespyr, Rellian, Zaja und Nai. Ihnen wurde beigebracht, wie man in dieser Wildnis jagt und überlebt, während der hochgebildete Ben (VIGGO MORTENSEN) seine Kinder zwischen 7 und 18 Jahren zu „Königen der Philosophie“ heranzieht und sie täglich in Muskelkraft-Nutzung und Ausdauer trainiert. Sozusagen zwischen „Dschungel“ und Wissenschaft. Am Lagerfeuer wird „Die Brüder Karamasow“ ebenso gelesen wie „The Joy of Sex“. Körper und Geist: Welt-Ökonomie und Hochkultur sind die vorrangigen Lern-Themen. Weihnachten ist der 7. Dezember, der Geburts-Tag von Noam Chomsky (einem der weltweit bekanntesten und anerkanntesten linken US-Intellektuellen und Sprachwissenschaftler). Die Gruppe ist sich einig, man fühlt sich zusammen wohl, spürt nur die Abwesenheit der (depressiven) Mutter, die sich im Krankenhaus befindet. Als sie sich das Leben nimmt, ist die Idylle beendet. Man muss zurück „zu den anderen“. In die Zivilisation.
Der Weg ist das Road Movie-Ziel. Im umfunktionierten Schulbus. Wenn diese starke kleine Gemeinschaft auf den „normalen Rest Amerikas“ stößt, wird es pointiert-originell. Wenn Cola zum „vergifteten Wasser“ erklärt wird; wenn von dieser agnostischen Gemeinschaft schlitzohrig zu hören ist: „Man darf sich über niemand lustig machen, außer über Christen“, zugleich aber ein neugieriger Polizist mit energischem „Jesus-People-Gejohle“ verjagt werden kann; wenn die vielen Fettleibigen im Shopping-Center als zweibeinige Nilpferde „identifiziert“ werden. Am Ziel treten die eigentlichen „Bollwerke“ auf: Opa Jack (FRANK LANGELLA) und seine Ehefrau. Sowieso und mit den Ansichten und „der Praxis“ ihres Schwiegersohns ganz und gar nicht einverstanden, stehen sie auch einer von ihrer Tochter Leslie gewünschten „buddhistischen Beerdigung“ (in einer öffentlichen Toilette) entgegen, bestehen auf das „Standesgemäße“. Die Defizite zwischen „Hier und Dort“ sind immens. Aber nicht nur deswegen sind Konflikte fortan programmiert. Jedoch: Nike ist eben nicht nur eine Schuhmarke, sondern bekanntlich auch die griechische Göttin des Sieges.
Ein listiger, sehr-sehr schöner, sehr gedankenvoller Abenteuerfilm. Intelligent wie vehement märchenhaft doppelbödig. Fein hintersinnig. Erinnernd an den pikanten Outlaw- & Anarcho-Family-Charme bei „Little Miss Sunshine“ von 2006 (s. Kino-KRITIK): Der Kapitalismus und seine Individuum-Schäden. In Farce & Sinn & Spannung.
Das Kinder-Ensemble ist urig. In der selbstbewussten Unangepasstheit. Angeführt wird es vom großartigen VIGGO MORTENSEN (2008 „Oscar“-nominiert für die Hauptrolle in „Tödliche Versprechen – Eastern Promises“) als „charmant überheblicher Hochkultur-Lederstrumpf“ („critic.de“). Der Schauspieler MATT ROSS, 46, („Good Night, and Good Luck“), bürgerlich Matthew Brandon Ross, der 2012 sein Regie-Debüt mit dem Streifen „28 Hotel Rooms“ schuf, hat – als Drehbuch-Autor und Regisseur – mit seiner zweiten Produktion ein erstklassiges, pfiffiges Indie-Drama geschaffen, das im Januar beim renommierten „Sundance Festival“ erstaufgeführt wurde und dann im Frühjahr beim Cannes-Festival in der „Forums-Reihe“ „Un Certain Regard“ lief, wo Matt Ross als „bester Regisseur“ ausgezeichnet wurde.
„Captain Fantastic“, so der Originaltitel, ist: Zum Denken anregend unterhaltsam-köstlich (= 4 ½ PÖNIs).