BLACK WIDOW

PÖNIs: (4/5)

„BLACK WIDOW“ von Cate Shortland (USA 2019; B: Eric Pearson (nach den MARVEL-Comicvorlagen); K: Gabriel Beristain; M: Lorne Balfe; 134 Minuten; deutscher Kino-Start: 08.07.2021; Start bei Disney+ mit VIP-Zugang (21,99 Euro): 09.07.2021; regulärer Abo-Start bei Disney+: 06.10.2021).

Gastkritik von Caroline „Carrie“ Steinkrug

Dass MARVEL sich stilistisch gerne neu erfindet, beweisen die Serienableger beim hauseigenen Streaming-Dienst Disney+ momentan eindrucksvoll und erfolgreich. Während WandaVision die Sitcom-Ästhetik der 50er, 60er und 70er Jahre liebevoll adaptiert und sich damit von der typischen Visualität vorheriger Superheldenformate abhebt, beweist Loki, dass mittlerweile auch vor komplexeren und mutigeren Story-Verläufen kein Halt mehr gemacht wird. Und auch BLACK WIDOW wendet sich nun von der reinen Inszenierung gottgleicher Comic-Helden ab, während James Bond angesichts dieses Actionspektakels mit Sicherheit geschüttelt und gerührt wäre. Daniel Craig muss also in jedem Fall eine deutliche Schippe drauflegen, wenn er sich mit diesen bombastischen Martial-Arts-Ladies in seinem letzten Einsatz messen möchte.

Über 10 Jahre befand sich das Soloabenteuer der BLACK WIDOW, der schwarzen Witwe Natasha Romanoff (SCARLETT JOHANSSON), nun in der Mache. Eine Geschichte über eine junge Frau aus der Sowjetunion, die einst im sogenannten Red Room, dem roten Raum, einem unmenschlichen physischen und psychischen Drill unterlag, um in einem Geheimprojekt, durch eine gehörige Gehirnwäsche zu dem zu werden, was ihre Bestimmung sein sollte: eine KGB-Tötungsmaschine. Als Deserteurin jedoch angewidert von ihrem eigenen Tun, und um dieses zu sühnen, entschloss sie sich aus eigenen Stücken dazu, unter ihrem titelgebenden Kampfnamen stattdessen der guten Seite beizutreten: den Avengers. Nachdem sie allerdings hier gegen das Sokovia-Abkommen verstößt, eine UN-Konvention, welche die Stationierung und den Einsatz von Individuen mit Superkräften regelt, muss sie unter- und abtauchen in ihre eigenen Vergangenheit. Was folgt ist ein Rückblick auf ihre Jugend, die sie bei Fake-Eltern und einer Ziehschwester verbrachte. Eine Ersatzfamilie, die sie einst verlor, als sie beschloss in den Westen zu ziehen, um ihr Leben zu verändern. Die „Mama“ Melina (RACHEL WEISZ) hingegen entkam diesem Red-Room-Protokoll nie und der „Vater“ Alexei (DAVID HARBOUR) als abgehalfterte sowjetische Version von Captain America, sitzt inzwischen sehr unrühmlich im Knast, wo er seine übermenschlichen Fähigkeiten nur noch als Taschenspielertricks mit „Karl Marx“ tätowierter Faust präsentiert. Yelena (FLORENCE PUGH), die kleine Schwester, wurde nach einer vermeintlich glücklichen Kindheit ebenfalls zur Auftragsmörderin erzogen. Doch das Vorgehen des grausamen Witwenproduzenten und Drahtziehers Dreykov (RAY WINSTONE) ist in der Zwischenzeit weitaus perfider und „moderner“ geworden als damals, denn: ein reines Brechen der jungen Frauen reicht ihm heute nicht mehr aus. Und so beliefert die düstere Wissenschaft ihn jetzt mit einer Art chemischen, technisierten Form der Gedankenkontrolle, die den freien Willen komplett ausschaltet und sein Spinnennetzwerk somit noch kontrollierbarer macht. Auch über das Ende des Kalten Krieges hinaus, verborgen im Dunkeln und unter dem Gerechtigkeitsradar der westlichen Welt.

Folglich eskaliert eine Geschichte, die sich irgendwo zwischen Familiendrama, Actionkino und Tragikomödie bewegt, und die ihren Antrieb natürlich aus der Vernichtung des Oberschurken erhält. Einem Antagonisten-Schwein, dessen Widerlichkeit vor allem aus dem darstellerischen Verweis auf Ekelpakete wie Hollywoodproduzent Harvey Weinstein Kraft zieht. Männer, die sich auf abscheuliche Weise, wie Dreykov sagt, die einzige Ressource zu Nutze machen, von der es genug auf der Welt gibt: Mädchen.

Zeitlich angesiedelt zwischen „The First Avenger: Civil War“ (s. Kino-KRITIK; 2016) und „Avengers: Infinity War“ (s. Kino-KRITIK; 2018) und als Startpunkt der Phase 4 im MCU (Marvel Cinematic Universe) entwickelt die Show um Scarlett Johansson, in der Rolle der Titelfigur, unter dieser Thematik eine weitaus düstere Dynamik als die meisten Ableger zuvor. Dass die australische Regisseurin Cate Shortland („Berlin Syndrom“; s. Kino-KRITIK) auch genau darauf abzielt, macht sie bereits in den ersten Minuten klar. Unter den Credits und zu einer sehr getragenen, von Frauenstimmen gesungenen Version von Nirvanas bedrückender Grunge-Ballade „Smells Like Teen Spirit“ zeigt sich in der Bildmontage ein Zusammenschnitt aus Massentierhaltung, Kriegsszenen und jungen Frauen im brutalen Soldatentraining. Verstörende Bilder, an denen der russische Filmemacher Sergei Eisenstein Gefallen gefunden hätte und dessen Schaffen sicherlich hier als martialische Referenz dient.

Um die Machenschaften dieses toxischen Patriarchats, das Töchtern ihren Familien entreißt und sie zu willenlosen zwangssterilisierten Waffen formt, nicht zu sehr aufs Gemüt des Publikums schlagen zu lassen, wartet BLACK WIDOW als Gegengewicht mit einer unfreiwillig lustigen Vaterfigur auf. Stranger-Things-Star David Harbour zu fett und zu abgedroschen, um im alten Cape des Red Guardians noch Glanz und Gloria auszustrahlen, trauert als ausrangierte Diva in der Midlife-Crisis tragikomisch seinem einstigen Ruhm hinterher. Traurig aber wahr: eine Situationskomik, die dem MCU oft gefehlt hat und mit ihm nun endlich ein Ventil findet.

Ansonsten haben die Männer in diesem Universum nicht mehr viel zu melden. Die „Lizenz zum Töten“ fällt den wiedervereinten Schwestern Yelena und Natasha zu. In zeitgemäßen Actionszenen, untermauert vom klangvollen Opernchor-Epos des Genre-erprobten Komponisten Lorne Balfe („Mission: Impossible – Fallout“; „Bad Boys for Life“), durchqueren die beiden ausdrucksstarken Kampfamazonen Schauplätze wie Marokko, Budapest und Norwegen und werden dabei weniger hypersexualisiert wie sonst. Das enge Lederoutfit mit tiefem Ausschnitt weicht einer Art Armeeanzug, welcher die Aufmerksamkeit nicht auf nackte Haut, sondern bewusst auf das nackte Überleben lenkt. Auf die Härte des Lebens, die grausame Realität, welcher die beiden starken Persönlichkeiten die Stirn bieten. Und auch, wenn mit BLACK WIDOW ein trauriger Abschied von Scarlett Johansson eingeläutet ist: in Florence Pugh (ebenso sehenswert in „Midsommar“; s. Kino-KRITIK) hat sie eine würdige Nachfolgerin gefunden, die im MCU sicher noch einiges von sich hören lassen wird.

MARVEL, als größter Blockbuster-Produzent der Welt, hat also Lust mit wichtigen Themen wie Trauma, Schuld und Feminismus zu experimentieren und damit couragiert umzugehen. Wir sagen: Danke! Denn das bringt nicht nur Zeitgeist-Entertainment mit sich, sondern füllt nach der Pandemie auch wieder die Säle! Kino … zum Glück bist du zurück! Wir haben Dich sooooo vermisst! (= 4 „Carrie“-PÖNIs).

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