BIS ZUM HORIZONT, DANN LINKS!

PÖNIs: (4/5)

„BIS ZUM HORIZONT, DANN LINKS!“ von Bernd Böhlich (B + R; D 2011; K: Florian Foest; M: Andreas Hoge; 92 Minuten; deutscher Kino-Start: 12.07.2012); käme dieser Film aus Frankreich, wären ihm Hymnen gewidmet. Doch von bloß einem (zwar namhaften, immerhin 2-fachen „Grimme“-Preisträger, aber doch eben) TV-Regisseur aus Dresden erdacht und ausgeführt, neee, da darf die Häme triumphieren. Wird erstaunliches deutsches Kino süffisant „‘runtergeschrieben“.

Wenn ich mir so die aktuelle Kritiklandschaft zu diesem wunderbaren Ironiekinostück aus deutschen Landen anschaue. Dabei ist dieser Film endlich einmal ein imposanter Unterhaltungsfels in der komödiantischen Brandung. Hierzulande. Wo normalerweise die schlüpfrige Dämlichkeit mit Primitivton angezeigt wie angesagt ist, werden hier feine wie freche tragikomische Pointen gesetzt. Mit aktuellem Realitätsgeschmack. Und bitter-charmanten Altersgefühlen. Man muss bloß gut zuschauen (wollen) und sensibel zuhören. Und einen der besten Schauspieler in diesem Lande genießen. Können.

Der Name allein schreckt schon ab. Ist aber die Regel. Wer kommt bloß immer auf die ausgesprochen dämliche Idee, Alters- bzw. Seniorenheime zum Beispiel „Abendstern“ zu nennen. Die reine Diskriminierung. Abschreckend. „Eine Grabkammer mit Beleuchtung“, nennt die „Süddeutsche Zeitung“ (am letzten Wochenende beim Interview mit Otto Sander) „so ein“ Gebäude. Gültig für Menschen „mit Verfallsdatum“. Die hier „abgegeben“ oder eingewiesen werden. Von Amtswegen, aber auch von der eigenen Familie. Weil es „mit Muttern“ zuhause nicht mehr geht. Von wegen der eigenen Pläne. Man hat schließlich selber noch viel vor, zu tun, also was soll man mit der Erzeugerin von einst „anfangen“? Klar doch, DIE Lösung, ab in ein tolles Heim.

Margarete Simon (ANGELICA DOMRÖSE) ist eigentlich noch „passabel“ wie sarkastisch drauf, wird aber von ihrem Sohn, einem UNO-Diplomaten (einzige darstellerische Schwachstelle: Stephan Grossmann) und seiner – etwas verunsicherten – Ehefrau (Gabriela Maria Schmeide) hier hin verfrachtet. Ins „Haus Abendstern“. Mit wenig „Sachen“: „Am Ende geht alles in eine Reisetasche“, resigniert die 70-jährige. Im „Abendstern“ sorgt eine obligatorische Hausordnung für Ordnung. Regelt Essen- wie Schlafenszeiten, natürlich darf auch nicht in diesen klaustrophobischen Zimmern geraucht werden, eigene Gedanken oder Initiativen sind eher unerwünscht. Vieles ist hier „eigentlich verboten“. „Man gewöhnt sich dran“, wird Margarete vom Tischnachbarn, Herrn Tiedgen begrüßt: “Das ist vielleicht das Schlimmste“, ahnt sie zurück.

Natürlich: Die Insassen werden weniger betreut und mehr verwaltet. Mit Lesenachmittagen, Plätzchen-Backen, Bewegungstherapien, Chorgesang. Gemeinsamen Fernsehabenden. Der übliche allgemeine wie phantasielose Kram. Angeleitet von Schwester Amelie (ANNA MARIA MÜHE), einer hübschen „Vorturnerin“. Die „ihre Schäfchen“ im festen Griff zu haben glaubt. Auch bei deren Ausflug am nächsten Tag – einem Rundflug in einer alten Propellermaschine, der historischen „JU-52“, über die Region. Mal eine halbe Stunde Abwechslung. Denken alle. Bis auf Eckehardt Tiedgen (OTTO SANDER).

DER ist im Kopf noch halbwegs klar und will mehr. Ist in der Nacht zuvor zufällig in den Besitz der Dienstpistole „des Techtelmechtels“ der jungen Schwester gekommen und handelt nun „oben“, im Cockpit, mit Verve: „Ich will das Meer sehen!“ Los, ab ans Mittelmeer. Einwände lässt er nicht gelten: „Flugzeugentführung ist kein Spaß“, geben Schlepper, der Pilot (TILO PRÜCKNER), und sein Assistent Mittwoch (ROBERT STADLOBER) zu bedenken: „Altersheim auch nicht“, hält Tiedgen dagegen. Und beharrt auf seine Forderung. Allerdings – warum nicht abstimmen, akzeptiert er schließlich. Bis auf den ewigen Nörgler und Besserwisser Herbert Miesbach (HERBERT FEUERSTEIN in seiner Glanzrolle als notorischer Stinkstiefel) und die irritierte Amelie sind alle locker dafür. Frei dem Tiedgen-Motto: “Lebe jeden Tag, als ob’s dein letzter wäre; GENAU DAS MACHEN WIR JETZT“. Ab gen Mittelmeer. Über Wien, zum Auftanken, wo aber gerade auch der russische Präsident erwartet wird und der Flugraum „eigentlich“ abgeriegelt ist. Die Alten müssen halt ein wenig “tricksen“. Denn „ist eigentlich verboten“ existiert für sie im Moment nun überhaupt nicht mehr. Prickelndes Wohlfühlen ist angesagt. Jedenfalls bei den Meisten.

Ältere „Herrschaften“ als WUT-BÜRGER. Daran muss sich die Republik immer mehr gewöhnen. Im Alltag. Wie neulich beim Widerstand gegen „Stuttgart 21“ oder wie derzeit in BERLIN, wo eine Gruppe von 50 Rentnern in Pankow das Seniorenfreizeitheim besetzt hält, weil es geschlossen werden soll. Die Medien reagieren begeistert: „Als gesellschaftliches Phänomen ist die Besetzung aber auch Ausdruck eines demografischen Wandels. Die Spätaktivisten sind nicht von einer existenziellen Not getrieben, sondern von dem Gefühl, nicht alles mit sich machen lassen zu wollen“ („Berliner Zeitung“/09.07.2012). Ähnlich hier. Im Kino. Denn die Insassen aus dem Hause „Abendstern“ haben das Anordnen, Verordnen, Zuordnen gründlich satt. Sie sind schließlich nicht entmündigt, sondern „nur“ alt:“: „Wir haben die Suppe fast ausgelöffelt, nun sollen wir die Löffel abgeben“. Aber nicht mit Eckehardt Tiedgen. Der ist grantig. Sarkastisch. WÜTEND. Und kriegt die Mitbewohner auch „dazu“. Über die Wut zur Lust. Zum Experiment „Abenteuer“. Was haben wir denn schon zu verlieren…????

Dass dies hier prächtig in, also mit – vor allem – feinem Wortwitz und sympathischen Bildern (samt herrlichen Landschaftsmotiven) funktioniert, liegt natürlich an diesem erstklassigen Ensemble. Allen voran: ER. Endlich ist ER einmal wieder in voller charismatischer Kraft und vortrefflicher Würde vor der Kamera. Seine sonore Stimme haben wir ja immer mal wieder gerne (kommentierend bei Dokumentationen oder als Off-Erklärer/“Das Parfüm“ von Tom Tykwer) vernommen, nun aber ist ER selbst in voller ironischer Charme-Größe wunderbar zu erleben, zu genießen: OTTO SANDER. Der Hannoveraner vom Jahrgang 1941 ist einer jener Ausnahme-Schauspieler, die es schaffen, „nur so“ die Leinwand zu beherrschen, sensibel zu dominieren: Kleinste Körperbewegungen, Blicke, Gesten oder Pausen von ihm sind/wirken spannend, nahegehend, berührend. Faszinierend. Wertvoll. Ehrlich. Eindrucksvoll. Wie hier. Als Altersrebell Tiedgen besitzt er furiosen Galgenhumor. Formuliert viel richtige Bitterkeit. Ist kraftvoll sauer. Hält die „ramponierte Gemeinde“ clever bei- und zusammen. Wir haben ein solch großartiges Kraftpaket von überzeugendem Schauspieler und „benutzen“ ihn kaum. Im deutschen Film. Ein Versäumnis, eine Schande, wie hier einmal mehr zu sehen, zu empfinden und zu genießen ist.

OTTO SANDER ist der wunderbare Motor in dieser kleinen großen Menschen-Komödie. Für DIE Regisseur und Drehbuch-Autor BERND BÖHLICH, der die populären „Krause“-Filme (mit Horst Krause) fürs TV schuf, schöne, spitze Pointen setzte: „Wenn sie mit ihrem Gebiss unzufrieden sind, wechseln sie den Zahnarzt, aber nicht die Zähne“, darf sich Zimmer-Nachbar Willy Stronz alias RALF WOLTER schon mal mürrisch von Tiedgen anhören, wenn er mal wieder zu den „falschen Dritten“ gegriffen hat. Apropos: Ein phänomenales Ensemble mit hochkarätigen Film- und Theaterassen aus vielen Jahrzehnten präsentiert sich hier köstlich aufmüpfig. Neben Veteran HERBERT KÖFER steht natürlich „Paula“ ANGELICA DOMRÖSE als überrumpelte Margarete Simon („Das hätte ich nicht gedacht, dass ich so schnell in den Himmel komme“) unter besonderer Beobachtung. Zu lange war sie „weg“. Von der Leinwand. Als altersweises, melancholisches wie toughes 70er „Mädel“ zeigt sie hier liebevoll die Kraft zweier Herzen. Zwischen stinkig und okay.

Bleibt die einzige Jugendliche in diesem stürmischen Senioren-Taifun: ANNA MARIA MÜHE, 25 (während des Drehs), ist ein attraktiv-grün-glubschäugiger, herrlicher Charmebolzen. Mit viel „Amelie“-Charme. „Passt schon“ prima hinein in diesen feinen, süffisanten, also leichten, aber nie seichten Ausflug der skurrilen Alters-Sklaven. Der im Übrigen (nach anderthalb kurzweiligen Stunden) filmisch viel zu abrupt endet und unbedingt der schmunzelnden Weiterbeobachtung bedarf (= 4 PÖNIs).

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