PÖNIs: (5/5)
„BIRDMAN (ODER DIE UNVERHOFFTE MACHT DER AHNUNGSLOSIGKEIT)“ von Alejandro González Inárritu (Co-B + R; USA 2013/2014; Co-B: Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris Jr.; K: Emmanuel Lubezki; M: Antonio Sánchez; 119 Minuten; deutscher Kino-Start: 29.01.2015); im Kollegenkreis ist man sich sonst NIE einig, hier schon: Der gemeinsame Jubel ist immens. Motto: Endlich einmal ein „erwachsener Film“, endlich einmal starke Charaktere, endlich einmal eine permanent reizvolle Geschichte mit hochinteressanten Menschen-Figuren. Mitreißend entwickelt. „Birdman“ ist kein Produkt der belanglosen Pappnasen-Fiktion, sondern ein packendes, faszinierendes Drama mit wunderbar emotionalem Lebendig-Geschmack. „Superheldenkino“, das sich „mit der Filmkunst“ versöhnt, urteilte die „FAZ“ Ende August letzten Jahres über diesen Eröffnungsfilm des Filmfestivals von Venedig.
Birdman wie BATMAN. Dieser legendäre amerikanische Comic-Held. Seit 1939 existiert er auf dem US-Papier; seit 1954 tauchte er auch bei uns auf. Hollywood-Real-Verfilmungen mit IHM gibt es seit 1943. Prominenz wie George Clooney („Batman & Robin“/1997), Christian Bale (3 x von 2005 – 2012) sowie demnächst Ben Affleck (2016) schlüpften/schlüpfen in das Fledermaus-Kostüm. MICHAEL KEATON, geboren am 5. September 1951 in Coraopolis, Pennsylvania, startete seine Kinofilm-Karriere als Komiker. In Komödien wie „Nightshift – Das Leichenhaus flippt völlig aus“ (1982), „Mr. Mom“ (1983) und dem Tim Burton-Horror-Kult-Spaß „Beetlejuice“ (1988). Tim Burton besetzte ihn dann zweimal für seine „Batman“-Versionen: „Batman“ (1989) und „Batman Returns“ (1992). Danach hatten Tim Burton & Michael Keaton keine Lust mehr an weiteren Batman-Movies. Michael Keaton verlor man mehr oder weniger aus den Kino-Augen. Aus dem Sinn. 1998 war er als „Jack Frost“ noch ein ulkiger lebendiger Schneemann, in „RoboCop“ tauchte er 2014 „etwas“ auf, aber in der „richtigen Wahrnehmung“ war Michael Keaton nicht mehr auf dem Radar.
Was sich nun schlagartig ändert. In „Birdman“ taucht MICHAEL KEATON plötzlich (also unerwartet) auf, um uns eine „olympiareife Gold-Präsentation“ abzuliefern. Die hoffentlich dazu führen wird, dass er nach der „Golden Globe“-Auszeichnung demnächst auch die verdiente „Oscar“-Trophäe bekommen wird. „Birdman“ ist sein Triumph, sein sensationelles Comeback. Im Januar übrigens erhielt „Birdman“ gleich 9 „Oscar“-Nominierungen.
Er heißt Riggan Thomson. Riggan war eine filmische Berühmtheit im hollywood‘schen Blockbuster-Betrieb. Spielte einst dreimal den Superhelden „Birdman“. Danach tauchte er ab. Sackte ab. Immer wieder wird er darauf angesprochen. Ob er denn noch einmal diese Erfolgsrolle übernehmen will. Die „Fans“ würden sehnlichst (wie die Geldgeber) darauf warten. Doch Riggan (MICHAEL KEATON) hat sich anders entschieden. Möchte sich endlich auch als Künstler legitimieren. Will es noch einmal wissen. Aber „anders“. Ist zum Broadway gen New York gezogen, um zu beweisen, dass er auch „wirklich“ „was kann“. Als ernstzunehmender Künstler. Schauspieler. Und Regisseur. Mit dem kreativen Wagnis, die Raymond Carver-Kurzgeschichte „What We Talk About When We Talk About Love“ von 1981 („Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“) in einer Selbstbearbeitung auf die Bühne zu bringen. Natürlich zieht sich dabei die wechselhafte Stück-Suche nach Liebe und Anerkennung auch wie ein roter Faden durch das Leben von Riggan Thomson. Dessen neue Aktivitäten eine Art Selbst-Therapie in Sachen Geliebt- und Bewundertwerden bedeuten.
In zwei Wochen ist Premiere. Riggan ist ständig von Zweifeln geplagt. Kann es sein, dass er sich übernimmt? Dass er diese „andere“ künstlerische wie intellektuelle Herausforderung gar nicht in der Lage ist zu stemmen? Andererseits ist es ihm ein Bedürfnis, der ganzen Welt – und vor allem sich – zu beweisen, dass ER keine abgehalfterte Hollywood-Ikone ist. Sondern quicklebendig. Im vollen Saft seines Wesens. Als Künstler, der eben viel mehr kann als immer nur der Superheld auf der Leinwand zu sein. Zynisch dagegen reagiert sein zweites Ich. Darauf. Jener Birdman. In ihm. Der ihn immer wieder beschimpft. Was für ein Loser er doch sei. Dass er HIER nicht HER-gehört. Bei diesen „Kunst-Fuzzis“. An der Ostküste. Sondern, dass sein „Stammplatz“ ein für alle Mal mit Birdman verbunden ist. Und bleibt. Warum machst du Idiot es dir bloß so schwer? Anstatt einfacher den schnellen Dauer-Erfolg und einen Haufen Money mit weiteren Birdman-Auftritten zu bekommen? Verkündet sein Dunkel-Ich: „Die Leute lieben lieber Blut. Sie lieben Action. Nicht diesen geschwätzigen, deprimierenden, philosophischen Mist“.
Riggan lässt sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Als der zweite Hauptdarsteller nach einem Unfall ausfällt, sind gewünschte Stars wie Woody Harrelson (wg. „Die Tribute von Panem 1-3“), Robert Downey Junior („Iron Man 4“) oder Michael Fassbender (Prequel der „X-Men“-Reihe) nicht zu kriegen. Also muss Riggan widerwillig Mike Shiner (EDWARD NORTON) akzeptieren, einen populären wie virtuosen Typ Marlon Brando-New Yorker, der viele Ticketverkäufe wie ständige Unruhe garantiert: Exzentrisch, aufbrausend, mit eigenen Gedanken zum Stück und dessen Interpretation. Sowie realitätsbesessen. Sprich: Method-Acting. Sprich: wenn Alkohol, dann richtigen. Wenn Notzucht, dann echt. Auf der Bühne. Die ja schließlich das Leben ist. Zeigt. Oder umgekehrt.
Riggan ist genervt. Hat viel mit sich und noch mehr mit „dem Volk“ aus seinem „Dunstkreis“ zu tun. Als da wären: Ein bei diesem irren Theater-Spielen kühlen Kopf bewahrender Produzent und Freund (ZACH GALIFIANAKIS/der tolle „Bekloppte“ aus den „Hangover“-Filmen); seine frisch aus der Entzugsklinik kommende Tochter und Assistentin Sam (EMMA STONE); Ex-Frau Sylvia (AMY RYAN), seine jetzige Freundin, die leicht am Wasser gebaute Bühnen-Kollegin Laura (ANDREA RISEBOROUGH); Hauptdarstellerin Lesley (NAOMI WATTS), die sich gerne mit der Frage beschäftigt, wieso habe ich keine Selbstachtung? („Du bist Schauspielerin“, lästert Laura zurück.) Und dann ist da ja noch dieser geniale Mike Shiner-Spinner, der mit Riggans Tochter anbändelt. In der Tat, Riggan Thomson muss schon ganze Heldenkräfte und Super-Nerven aufbieten, um nicht vollends aufzugeben. Unterzugehen. In diesem Leben auf ständiger Bühne.
„Birdman“ schaut und vor allem hört sich an wie ein Blockbuster-Kammerspiel. In dieser außergewöhnlichen Mixtur. Wie Mainstream mit Cine-Poesie. Bunt, beweglich, rotierend, dabei voller sensibler Hysterie, porentiefer Psycho-Auslotung, mit viel prächtiger, pointierter Seelen-Kotze versehen. Mit phantastischen visuellen Ideen, etwa den Facebook-reifen Unterhosen-Spurt von Riggan auf der Straße, mitten durch geifernde Fans; diesem ständigen Gewusel in dieser verwinkelten Theater-Welt mit ihrer klaustrophobischen Gängen-Enge; den satirischen, treffsicheren Anspielungen auf Egos, Eitelkeiten und überhaupt „wichtigen“ Befindlichkeiten in der obszönen Fabrik Kunst, etwa, wenn sich Riggan und eine namhafte Kritikerin mit Verbal-Häme tragikomisch ehrlich überhäufen.
Dabei foppt die magische (Hand-)Kamera. Augenzwinkernd. Gibt vor, wie beim Hitchcock-Klassiker „Cocktail für eine Leiche“, viele lange Szenen ohne sichtbare Schnitte, in einer einzigen Einstellung, gedreht zu haben. Was sinnlos ist, denn der Film spielt nicht in Echtzeit. Wurde also „bearbeitet“. Im Vorjahr bekam EMMANUEL LUBEZKI für seine saustarke Optik-Arbeit in „Gravity“ den „Oscar“, in diesem Jahr darf er für seine faszinierend „mitdenkenden“ (und eben nicht nur bedienenden) Bilder für „Birdman“ wieder mit der Auszeichnung stark rechnen.
Ebenso wie das plötzliche Stehaufmännchen MICHAEL KEATON. Auf dessen „Batman“-Erfahrungen Regisseur Alejandro G. Inárritu zweifellos setzt und der diese „Chance“ einmalig nutzt. Um seinem darstellerischen „Affen“ prächtig Zucker zu geben. Die „Identität“ mit seinem Riggan Thomson ist verblüffend. Treffsicher. Voller identifizierbarer Verzweiflung. Wut. Tapferkeit. Nervosität, Ausraster. MICHAEL KEATON hat sich auf einen – begeisternden – Performance-Zurück-Schlag in die Champions League der weltbesten Schauspieler versetzt. Seine scharfzüngigen Konfrontationen mit dem ebenfalls grandiosen EDWARD NORTON sind von allerfeinster Raffinesse. „Birdman“ muss man sich gewiss mehrmals anhören, um die originelle Kopf-Deutung vollends verstehen und aufnehmen zu können.
ER hat ihn geschaffen: Der 50-jährige mexikanische Co-Drehbuch-Autor, Produzent und Regisseur ALEJANDRO GONZÁLEZ INÁRRITU. Einer der gegenwärtig spannendsten Cineasten. Seit Werken wie „Amores Perros“ (2000), „21 Gramm“ (2003/s. Kino-KRITIK), „Babel“ (2006/“Oscar“ nominiert/s. Kino-KRITIK) und „Biutiful“ (2010) weltweit geschätzt. Hier ist ihm ein eindrucksvoll-kluger, bissig-pointierter Kommentar auf unterhaltsam-kriegerische Macher-Interna im amerikanischen Business- und Kunst-Betrieb gelungen. Phänomenal, furios, fesselnd.
„Birdman“ ist einer der wirkungsvollsten und zugleich anspruchsvollsten US-Filme der letzten Jahre. Übrigens – mit einem geradezu lachhaften (Hollywood-)Budget von 18 Millionen Dollar entstanden. Wahnsinn! (= 5 PÖNIs).