DIE ZEIT BLEIBT STEHEN

DIE ZEIT BLEIBT STEHEN“ von Peter Gothár (B+R; Ungarn 1982; 103 Minuten; Start D: 24.05.1985)

In Ungarn ist alles anders. Die Grenze, die Zeitungen, das politische Klima, die Wirtschaft. Ungarn sei die fröhlichste Baracke im sozialistischen Lager, heißt es an der Duna (Donau) in einem volkstümlichen Witz. Das war lange Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so. Stalins Schreckensregiment machte auch vor diesem Satelliten-Partner nicht halt und übertrug sich auf den gefürchteten Sicherheitsdienst AVH in dieser Zeit, der das Land mit Massenverhaftungen, Folter und Schauprozessen terrorisierte. Die Empörung der Bevölkerung machte sich im Herbst 1956 Luft. Stalin war seit über drei Jahren tot, und Chruschtschow hatte erstmals öffentlich harte Kritik an dessen Gewaltherrschaft geübt. Die Folge ist bekannt, denn am Anfang des heutigen Ungarns steht der niedergeschlagene Volksaufstand vom November 1956. Nicht nur wirtschaftlich zog man Lehren aus der Vergangenheit, sondern auch die Politik wurde nach einer Phase der Repression und des Übergangs anderen Prinzipien unterworfen. “Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“, lautete ein populär gewordenen Ausspruch des damaligen Regierungschefs Kadar. Aber die Spuren des Erlebten waren nicht so einfach unter den Tisch zu kehren, und die Atmosphäre von Misstrauen, Kontrolle, Wut und Gleichgültigkeit war nicht so leicht zu überwinden. Vor allem die Generation bekam dies zu spüren, deren Väter sich einst auflehnten. Davon handelt
dieser bemerkenswerte Film. Der am 5. November 1956 in Budapest einsetzt.

Ein Vater, der auf der Seite der Aufständischen gekämpft hat, muss fliehen und lässt, auf deren eigenen Wunsch, die Frau und die beiden kleinen Söhne zurück. Der düstere, bräunlich-verschmutzte Blick geht auf Ruinen und trostlose, dunkle Straßen, während im Hintergrund die Geräusche von Maschinengewehrsalven eine bedrohliche Spannung schaffen. Der Film benutzt authentisches Material: Menschen in Aufruhr, Menschen auf der Flucht, die Panzer der Russen. Aber schon hier klingen schon die Schüsse irgendwie “unecht“, so als ob hier bereits signalisiert werden soll, dass es im Folgenden nicht um eine historische Abrechnung oder Aufklärung geht, sondern um ganz etwas anderes.

In anderen Filmen klingen die lauter, greller, “direkter“. Und auch die musikalische Untermalung klingt nicht tragisch-bedeutungsschwer, sondern swinghaft-weich-ironisch. Das alles ist nur Mittel zum Zweck, keine bekannte pathetische Politklamotte, bitte sitzen bleiben. “So, jetzt haben wir uns also entschieden“, verabschiedet sich die Mutter aus der Ouvertüre. Das Bild wird älter, die Personen auch. Wir befinden uns am selben Ort, nur sieben Jahre später. Wo vorher dunkles, bräunliches Schwarz-Weiß vorherrschte, ist jetzt auf einmal Farbe. Gabor und Denes versuchen ihre ersten eigenen Schritte auf dem Parkett der Erwachsenen, aber auch der Gesellschaft. In der Tanzschule, in der Real-Schule, oder privat. Der Vater ist Vergangenheit, ein ehemaliger Mitstreiter von ihm, der seine Strafe abgesessen hat, zieht zu ihnen. Nimmt eine Art Vater-Stellung ein und kann mit so manch wichtigem Tipp aufwarten. Wie man sich zu verhalten hat, um nicht aufzufallen und anzuecken. Bloß nie zu viel reden, nur die nötigsten Beziehungen mit seiner Umgebung aufrechterhalten. Vertrauen ist gut, Misstrauen ist besser. Noch ist der „Große Bruder“ fast an allen Ecken zu spüren. Aber eben nur fast. So kommt Denes zu seiner ersten Liebe. Magda, eine Mitschülerin, hat sich in ihn verknallt, aber er ist gehemmt und verunsichert und traut sich nicht, ihr zu nähern. Aber auch Gabor steht vor Probleme. Freund Pierre, ein ständiger Unruheherd am Gymnasium, steht vor dem Rausschmiss und will das Land verlassen. Denes und Magda kommen mit. Aber über einen Autoklau mit fröhlicher Fahrt an den Plattensee kommen sie erst einmal nicht hinaus. Amerika winkt, wie es aus den unzähligen Song “verlockt“ hat, die sie in der Penne ständig gedudelt haben. Paul Anka, Bill Haley und Coca Cola, das verspricht Freiheit und Zukunft. Hoffnung. Erzähl, wie war‘s da drin? Was war los?, fragt die Mutter von Gabor und Denes einmal den aufgetauchten Mitstreiter ihres geflüchteten Mannes. Warum?, fragt der antwortend. Was war hier draußen los? Wir kommen langsam aus dem Schlamassel raus, antwortet die Frau und gibt damit voll die Absicht des Films wieder. Nicht Agitation und Anklage, sondern das Gefühl der “ungarischen Sechziger“ ist gefragt.

Peter Gothar hat seinen Film, dessen Titel übrigens von einem bekannten ungarischen Volkslied entstammt, nicht im Stile des sozialistischen Realismus entwickelt, sondern mehr mit manchmal traumähnlichen, expressionistischen Bildern, verfremdetem Licht und manchmal in einer Art verschwommener Dunkelheit, so als pelle sich hier erst noch eine halb verpackte Generation aus ihrer Schale. Gut und Böse werde selten ausgemacht. Es gibt die Alten, die an ihren Wunden lecken und die bei ihnen wohl auch nicht mehr heilen werden, und es gibt die Jungen, die ein bisschen “amerikanisiert“ zu rebellieren versuchen, auf sehr bittersüße, melancholische und auch komische Weise. Der Film‚ kürzlich in Tokio mit einem der drei Debütpreise von 500.000 Dollar hochgelobt, steht in seinem Charme, seiner aufrührerisch-hilflosen Suche nach Liebe und Sinn zwischen Nicholas Rays “Denn sie wissen nicht was sie tun“ und George Lucas “American Graffiti“. Es ist ein wunderschöner, nur durch die deutsche Synchronisation (manchmal) platt gedrückter Film über den Beginn einer Kultur, die sich zwangsläufig erst einmal über Wandinschriften, Pin-Up Fotos und vor allem der Pop-Rock-Musik artikuliert. Und es ist ein bewegender Film über eine Jugend auf der Suche nach sich selbst. Zu einer Zeit und einer Gegend, die uns nun nicht mehr so fremd sein wird.

“Denn nicht Wilde sind wir, sondern Menschen“, lässt einmal eine Lehrerin vernehmen und blickt dabei voll in die in die Kamera und uns an (= 4 PÖNIs).

 

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