„UND DANN DER REGEN – TAMBIEN LA LLUVIA” von Icíar Bollaídies (Sp/Mex/Fr 2010; 103 Minuten; Start D: 29.12.2011); dies schätze ich am KINO so sehr – es kann beeindruckend informieren und dabei großartig unterhalten. Mitreißen. Klug mitreißen. Solch einen phantastischen Spagat liefert dieses hochklassige Polit-Drama. Es erzählt eine historisch „passierte“ Geschichte SO, dass diese nicht nur „echt“ wirkt, sondern tatsächlich „wirkt“. Unseren Kopf „erreicht“. Ihn nicht nur kurz mal streift, sondern leidenschaftlich füllt. Mit spannenden Argumenten. „Und dann der Regen“ erinnert in seiner komplexen Schärfe und klaren Deutung an Politdrama-Klassiker wie zum Beispiel „Z“ von Constantin Costa-Gavras (1969). Wo es auch um die Auflösung demokratischer Strukturen ging. Um „Macht-Haber“ und „Pöbel“. Genannt Volk. „Die Oben“ ordnen an, „die Unten“ sollen folgen. Also bezahlen. Kommentarlos. Klaglos. Sollen alles hinnehmen. Doch dies wollen sie nicht. Tun sie nicht. Indem sie sich wehren. Für „Unruhe“ sorgen. Die Folge: Konfrontationen. Aggressive Konfrontationen. Gewalttätige Auseinandersetzungen. Weil „Die Unten“ sich nicht fügen wollen, beginnt „die Obrigkeit“ ihre Macht zu „präsentieren“: Durch die Polizei und das Militär.
Mittendrin: Ein angereistes Filmteam, das zur selben Zeit HIER einen Film dreht. Gerade hier. Bewusst hier. Weil im armen Bolivien die einheimischen Mitwirkenden mit Billighonorar abgespeist werden können. Für die zahlreichen Statisten gibt es zwei Dollar pro Tag. DAS rechnet sich. Ist profitabel. Für die Macher um den Produzenten Costa (LUIS TOSAR). Und den jungen engagierten Regisseur Sebastián (GAEL GARCIA BERNAL). Die einen Spielfilm über den WAHREN Christoph Kolumbus zu drehen beabsichtigen. Um zu zeigen, wie DER damals, im 16. Jahrhundert, WIRKLICH war: Ein brutaler Eroberer mit der großen Gier nach Macht und Gold. Wer sich ihm und seinen spanischen Mannen in den Weg stellte, wurde brutal unterjocht. Vernichtet. Ein Ausbeuter, der den Aufstand des Taino-Häuptlings Hatuey und wütender Priester niedermetzelte. Im Namen Spaniens und der katholischen Kirche. Die Einheimischen, die Ureinwohner, durchaus friedlich gesinnt, hatten keine Chance. Entweder gehorchen oder untergehen. Auf dem Scheiterhaufen. Oder in der Sklaverei. Davon soll der Film handeln. Die einmal mehr widerliche Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Durch „Ober-Menschen“. Die sich, Gottgleich, als Diktator, Terrorist, als „definitiver Führer“, lustvoll autoritär aufspielen. Und sich einen Dreck um Mitmenschen und Menschlichkeit scheren. Die Hauptsache: PROFIT. Gewinn. GOLD. Ein guter Filmstoff. Nicht wahr. Weil so aktuell: Kolumbus wäre heute Banker. Manager. Mit Sicherheit. Und mit vielem Bonus-Geld.
Deshalb hält sich die Filmcrew anno 2000 n. Chr. in der bolivianischen Kleinstadt COCHABAMBA auf. Die liegt zwar in den Anden, weit weg vom historischen Ankunftsort von Kolumbus in der Karibik, aber die Produktionsbedingungen sind hier halt günstig. Spektakuläre Massenszenen mit einheimischen Anwohnern kann man sich hier „leisten“. Wie gesagt. Alles wäre im Lot, wenn man nicht „aus Versehen“ zur falschen Zeit am falschen Ort wäre. Denn mitten in den laufenden Dreharbeiten beginnt ausgerechnet HIER ein Bürger-Krieg. Der als „Wasserkrieg von Cochabamba“ in die aktuellen Geschichtsbücher eingehen soll.
Zu den Fakten: Cochabamba, auf 2500 Meter Höhe in den östlichen Anden gelegen, ist die viertgrößte Stadt Boliviens. Dem trotz seiner einst reichhaltigen Bodenschätze ärmsten Land Südamerikas. „Ende der 1990er Jahre verfolgte die Regierung des ehemaligen Militärdiktators Hugo Banzer – auch auf Druck der Weltbank und des IWF – eine Politik der rigorosen Privatisierung. In Cochabamba betraf das die Wasserversorgung, die an ein Konsortium unter Führung des multinationalen Konzerns Bechtel veräußert wurde. Binnen weniger Monate verteuerte die neue Gesellschaft Aguas de Tunari das Wasser um mehr als 300%. Für viele Familien, die mit weniger als 100 Dollar im Monat auskommen mussten, waren die Wasserpreise nicht mehr zu bezahlen“ (Presseheft). Massive Proteste der Bevölkerung waren die Folge. Und die Gründung der COORDINADORA – ein breites Bündnis aus oft dezentral organisierten Gewerkschaften, von Stadtteilkomitees, Studenten und der gerade in den Vorjahren erstarkten Bauernorganisationen mit indianischem Hintergrund. Nach vielen Auseinandersetzungen zwang der enorme, unbeugsame, nicht kleinzukriegende Widerstand der Bevölkerung die bolivianische Regierung schließlich zur Rücknahme der Verträge. Die Wasserversorgung Cochabambas ging wieder in die öffentliche Hand über. „Die Unten“ siegten.
Was macht man in solch einem beginnenden explosiven Umfeld-Moment? Als Filmhersteller? Einfach weiterdrehen? So tun, als würde „drumherum“ nichts passieren, was mich angeht, um den politkritischen Historienfilm schnell fertigzustellen? Oder mischt man sich „aktuell“ mit-ein, zumal der engagierte Hauptdarsteller des Films, ein außerordentlich talentierter Akteur namens Daniel (was für ein phantastisches, intensives, ausdruckstarkes Gesicht: JUAN CARLOS ADUVIRI), sich „in Zivil“ als Anführer „der Aufständischen“ entpuppt? Und von der Polizei gesucht wird? Auf der einen Seite drehe ich einen zutiefst engagierten Film über eine „berechtigte Rebellion“ im 16. Jahrhundert, andererseits tue ich heute aber in einer ähnlichen, durchaus vergleichbaren Ausbeutungssituation NICHTS. Oder? Was? Wie soll ich mich verhalten? Jetzt? Denke ich nur an MEIN eigenes Business, das heißt, so schnell wie möglich doch noch HIER meinen Film irgendwie abzudrehen? Oder blicke ich über meinen privaten, individuellen wie lukrativen Tellerrand & Horizont hinaus und stelle mich den Gegebenheiten? Mit allen auch unangenehmen Konsequenzen? Soll ich mich sozusagen als nicht-blinder Fremder hier mit-einmischen? Mich engagieren? Wie es meine verbürgten Filmfiguren einst auch taten? Und dafür bitter bestraft, abgestraft wurden? Viel ratlose Unsicherheit macht sich breit. Im Team von Kunst und Business.
Wie? Was? Warum? WER BIN ICH? Wirklich? Jetzt, hier, an diesem brandheißen Ort? WO stehe ich tatsächlich? Und Wofür? Welche Werte vertrete ich überhaupt? Für Produzent Costa und Regisseur Sebastián, mehr und mehr aber auch für die gesamte Crew, stellen sich genau diesen Fragen. Wie verhalte ich mich nun? Wo ich eigentlich doch nur „filmisch“ eine kritische Meinung habe. Aber nicht in der Realität. Da existiert vorrangig eigentlich nur Business. Eigentlich. Doch genau in DER ist man jetzt angekommen. In der wirklichen Welt. Die Filmcrew, jeder Beteiligte, sieht sich im Zwiespalt. Einerseits der hehre Filmtext, aus dem vorgegebenen Drehbuch, andererseits das aktuelle Geschehen. Mit dem unüberhörbaren lebendigen Schrei-Text von den Straßen. Vor dem Hotel. Weghören, Wegblicken, wegschauen wird immer unmöglicher. Die Filmsprache, die Filmdialoge, werden immer „lebendiger“. In ihrem politischen Zeitgeist. ALSO???
Ein grandioser Streifen. Der hierzulande erstmals im diesjährigen BERLINALE-Panorama-Programm vorgestellt und dort mit dem Publikumspreis bedacht wurde. DER die spanische Nominierung zum Auslands-„Oscar“ 2011 war. Und inzwischen auf vielen internationalen Festivals erfolgreich lief. Der fünfte Kinofilm der 44jährigen spanischen Schauspielerin, Drehbuch-Autorin und Regisseurin ICIAR BOLLAIN, dem europäischen Arthouse-Publikum vor allem durch ihre Werke „Blumen aus einer anderen Welt“ (1999) und „Öffne meine Augen“ (2003/ausgezeichnet mit dem spanischen „Oscar“, dem „Goya“, als „Bester Film“) bekannt, ist sowohl eine visuelle wie vor allem eine gedankliche wie auch eine darstellerische – ENSEMBLE – Wucht. Überzeugt in der Kombination aus politischer Frage-Botschaft und vehementem „Entertainment“. In der Mixtur aus dokumentarischer Einst-Nähe und selbstkritischem aktuellem Polit-Blick. Besonders, wenn die Film-im-Film-„Realität“ mit der tatsächlichen hinter der Kamera aufeinanderprallt. Sich „verhakt“. Und sich einfach nicht mehr entzerren lässt. Wenn FILM zur „Tatsache“ wird. Und eine baldige „Stellungsnahme“ provoziert. Von jedem.
„Und dann der Regen“ ist, wirkt aufregend wie ein authentisches Statement, wie ein kraftvolles Kunst-Polit-Werk von Ken Loach. DEM britischen Experten für brillante Sozialdramen („Riff-Raff“; „Raining Stones“; „Land and Freedom“). Was nicht verwundert, stammt doch hier das Drehbuch aus der Feder des schottischen Autoren und langjährigen Loach-Drehbuch-Mitarbeiters PAUL LAVERTY („The Wind That Shakes The Barley“/“Goldene Palme“ von Cannes 2006). DER besitzt ein untrügliches, großartiges Gespür für spannende Gesellschaftsthemen. Und versteht dieses, exzellent zu formulieren. Hier als großartige „Vorlage“ für die spanische Regisseurin Iciar Bollain. Die ein stimmiges wie stimmungsvolles Drehbuch von Paul Laverty, atmosphärisch unterstützt von den exzellenten Bildern des Kameramanns ALEX CATALAN, überzeugend visuell wie intelligent gedanklich packend in plausible und SEHR beeindruckende „Abenteuer“ umsetzt(e). Unterstützt von der angenehm unauffälligen wie „tollen“ „Kommentar“-Begleitung von ALBERTO IGLESIAS Musik.
Wir haben es hier zum Jahresabschluss 2011 mit einem der BESTEN KINOFILME des Jahres zu tun: „TAMBIEN LA LLUVIA“ ist ein Hammer von modernem politischem Meisterwerk (= 4 ½ PÖNIs).