TURISTAS

TURISTAS“ von Alicia Scherson (B+R; Chile 2009; 105 Minuten; spanische Originalfassung mit dtsch. UT; Start D: 01.12.2011); die 1974 in Santiago de Chile geborene Drehbuch-Autorin und Regisseurin zählt zu den spannendsten Talenten im chilenischen Kino. Ihr Debüt-Spielfilm „PLAY“ von 2005 war nicht nur ein großer einheimischer Erfolg, sondern auch auf internationalen Filmfestivals. Gewann dort insgesamt 17 Preise, darunter auch den „Tiger Award“ in Rotterdam. Die Filmemacherin ging nach einem Biologie-Studium 1994 nach Kuba, um an der renommierten lateinamerikanischen Filmschule in San Antonio de los Banos Film zu studieren. 1999 erhielt sie ein Stipendium für die „University of Illinois“ in Chicago, wo sie schließlich ihren Master machte. Zurück in Santiago arbeitete sie als Dozentin und schuf mehrere Kurzfilme. Bevor es mit den Langfilmen „losging“.

Ein Paar. Im heutigen Chile. Die 37jährige Carla und ihr Ehemann. Beide sind aus der Hauptstadt Santiago in die Sommerferien aufgebrochen. Mit dem Wagen, ein Wassermotorrad hinten dran. Man plaudert. Allgemeingut. Nichts Besonderes. Schon gar nichts Aufregendes. Dann erzählt sie, wie nebenbei, dass sie ihr gemeinsames Kind abgetrieben hat. Eine Kurzschlussentscheidung. Bei der er nicht eingebunden wurde. Was ihm „sauer“ aufstößt. Man streitet. Er lässt sie bei einer Pinkelpause zurück. Haut einfach ab. Mit dem Auto. Ihr Gepäck hat er am Straßenrand hinterlassen. Carla macht sich auf den Weg. Nicht zurück, nach Hause, sondern in einen Nationalpark. Gemeinsam mit dem norwegischen Rucksacktouristen Erik. Der erklärt sich für schwul. Carla lernt weitere „Exoten“ kennen. Den Parkwächter Orlando, der mal mit einem Lied kurz berühmt war; zwei junge Cousinen, die im Gothic-Look den Einkaufsladen im Camp führen und darüber debattieren, ob man lieber „vernünftig“ oder schon mal „wild“ leben sollte. Carla ist hin- und hergerissen. In und mit ihrem neuen Zeltleben. Soll sie sich auf „Das-Hier“ jetzt erst einmal einlassen? Oder soll sie gleich zurück zu ihrem Mann? Dann entdeckt sie die Natur. Im ganz kleinen Käferleben ebenso wie hoch oben mit dem Specht. Die Gräser, die Bäume. Der imposante Wald. Geräusche, Gerüche, die Schönheit der Natur, zwischen sanft und wild. Carlas Unentschlossenheit, Zögerlichkeit, weicht einem neugierigen Selbstbewusstsein.

Ein Satz aus der Presse-Ankündigung des engagierten Göttinger Filmverleihs „Kairos“ hat mich elektrisiert. Neugierig gemacht für dieses fesche Außenseiterstück im aktuellen Programm: „Alicia Scherson entlässt uns…..mit der verflixten Ahnung, dass wir auch dann Touristen sind, wenn wir nicht reisen“. DAS ist es. Denken wir doch mal. Fühlen wir doch mal. WIR als vorüberziehende Suchende auf diesem Planeten. Unperfekte Moment-Passagiere. Mit hohem Unsicherheitspotenzial. Ewig auf Glückssuche. Wenn wir damals nicht gen dorthin gegangen wären, sondern entgegengesetzt, was wäre dann passiert? WEM wären wir stattdessen begegnet? Welchen Einfluss hätte DIES auf unser weiteres Leben genommen? Welchen Menschen wären wir „anstatt“ begegnet? Was hätte uns inspiriert? Was hätten wir dann gesehen? Gefühl? Erlebt? WIE wäre dann unser weiterer Weg verlaufen?
„So etwas“ beschreibt dieser feine, ruhige wie ereignisreiche Menschen-Film. Mal die eigene Lethargie, das Eingefahrene überwinden. Sich doch mal zu trauen, Umwege zu nehmen. Mal etwas Anderes ausprobieren. Eine Auszeit vom Alltag nehmen. Unspektakulär. Einfach so. Kann GUT sein. Und tun. Carla spürt neue Empfindungen. Efahrungen. Wird „reicher“. Bereichert sich. Ist erstaunt. Überrascht. Aber auch im Zwiespalt. Mit 37. Na und? Beziehungsweise nach und nach: Warum denn nicht: Eine offensichtlich spannende Erfahrung.

Mit der renommierten chilenischen Schauspielerin ALINE KÜPPENHEIM (40) als Carla ist und zeigt sich endlich einmal kein Fratzengesicht auf der hiesigen Leinwand, sondern ein lebendiger interessanter Mensch. Mit viel wunderbarem Normalsein-Charme. Und diskreten Seelen-Narben. Eine feine „behutsame“ Erscheinung. Die sich ruhig „aufbaut“. Und viel zu empfinden und mitzuteilen weiß.

„Turistas“ ist spirituelles Erlebniskino. Ganz fein und schön sinnlich (= 4 PÖNIs).

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