Der Schrei: Moskau 1970

Der Schrei Nr. 15 ca. 1970

Unser Redaktionsmitglied Hans-Ulrich Pönack war ALS TOURIST IN MOSKAU

Die Hauptstadt der UdSSR war das Ziel einer sechstägigen Privatreise von 30 Mitgliedern der Literarischen Mittwochsgesellschaft. Zusammen mit vielen Gleichgesinnten aus Westberlin und der Bundesrepublik, unsere charmante Dolmetscherin Natascha schätzte, dass etwa 10.000 Besucher aus dem westlichen Teil Deutschlands über Silvester in der russischen Metropole weilten, war der erste Eindruck zunächst ein ziemlich zwiespältiger. Denn, in einem unterkühlten Flugzeug gab es einen hervorragenden Service. Moskau empfing uns mit einer freundlichen Temperatur, nur -5°, eine erste Überraschung. Die Unterkunft im Hotel Minsk in der Gorki-Allee, der Moskauer Hauptstraße, war einfach, aber sauber und gut. Durch den zweistündigen Zeitunterschied ging es schon auf den Abend zu, als das erste Mal Moskauer Trubel betrachtet werden durfte.

Dem Touristen aus dem Westen zeigt sich Moskau in recht verschiedener Art. Auf der einen Seite das fantastische Kultur-Programm. Das Bolschoi-Ballett („Nussknacker“ / „Schwanensee“) ist in diesem sechsrangigen Prunkpalast von Bolschoi-Theater auch für den Nichtliebhaber dieser Kunst ein nicht zu vergessenes Erleben. Der Volkstanzabend wird zu einer begeisternden Darbietung. Der Besuch des Staatszirkuses während der letzten Stunden des alten Jahres, das Kennenlernen des berühmten Clowns Poppow mit seinem kleinen Hund, die unwahr­scheinlichen, bei uns noch nie gesehenen Leistungen der Artisten und Dompteure lassen den Betrachter in Superlativen schwelgen. Dazu die typischen eindrucksvollen Sehenswürdigkeiten wie Kreml, Schatzkammer, Lenin-Mausoleum, Troika-Fahrt und U-Bahn.

Aber dann kommen die wenigen Minuten, in denen ein privater Bummel durch das inzwischen sehr kalt gewordenen Moskau (-30°) andere Eindrücke bringen. Das kurze Kennenlernen des Studenten Mascha mit seinen Freunden, die sich unter gar keinen Umständen zu einem Wodka in das Hotel einladen lassen wollen. Die Begegnung mit diesen schon in Warschau und Prag kennengelernten Schiebern, bei denen unsere
D-Mark, und die mitgebrachten Strumpfhosen, außerordentlich begehrt sind. Die neugierigen Blicke der so farblos und oftmals sehr ärmlich gekleideten Bürger auf uns „Auffallende“. Die stummen, aber interessiert daher blickenden Menschen, die, oder täusche ich mich so, immer etwas Zurückhaltendes an sich haben. Die überaus große Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Schallplattenverkäuferin bei unserem komisch anmutenden Versuch mit Englisch und Zeichensprache. Das Nie-bekommen oder Nicht-aufgenommen-werden in einem der zahlreichen staatlichen Taxis. Die riesigen Schlangen vor einzelnen Ständen in den großen Kaufhäusern.

Gedanken über Gedanken. Gedanken über das 6-Tage-Erleben einer bedeutenden Stadt. Wo bei uns Selbstbewusstsein, Geschäftstüchtigkeit und eine Portion Nonchalance herrscht, ist hier eine Atmosphäre des Lauerns, des Unruhig-Seins. Der Gedanke an die Freiheit schiebt sich bei mir immer wieder vor. Als wir Moskau am 2.Januar verlassen, ist es ein ganz anderes Abschiednehmen als sonst üblich. Ein nachdenklicheres.

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