„POLL“ von Chris Kraus (B+R; D/Ö/Estland 2009/2010; 133 Minuten; Start D: 03.02.2011); der 1963 in Göttingen geborene Regisseur hat sich „unauffällig“, also nicht sehr laut, in die Meisterklasse deutscher Filmemacher katapultiert. Mit nur wenigen, dafür aber um so nachhaltigen Werken. „Poll“, sein erst 3. Leinwandspielfilm, ist GANZ GROSSES, berauschendes Kino. Nach Jobs als Journalist und Illustrator („u.a.“, wie das Presseheft notiert), studierte er von 1991 bis 1998 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, Berlin. Arbeitete als Autor und dramaturgischer Berater, „u.a. für Detlev Buck, Pepe Danquart und Volker Schlöndorff“. „Scherbentanz“, mit Margit Carstensen + Jürgen Vogel hauptrollenbesetzt, war 2002 sein Langfilmdebüt. Das vielfach prämiert wurde (u.a. Deutscher Drehbuch- + – Kamerapreis). Sein zweiter Spielfilm, „VIER MINUTEN“, 2005 mit Monica Bleibtreu + Hannah Herzsprung gedreht, gehört zu den meist ausgezeichneten deutschen Filmen der letzten Jahre, gewann rd. 50 nationale bzw. internationale Preise (darunter den „Deutschen Filmpreis“ als „Bester Spielfilm“).
Der neue Film von Chris Kraus hat auch „was mit ihm“ zu tun. Familiär sozusagen: ODAR SCHAEFER, die Hauptakteurin und Erzählerin hier, ist eine geborene Kraus und seine Großtante. Die Berliner Schriftstellerin lebte von 1900 bis 1988.
Zur Vor-Geschichte von Ort, Zeit und Kino, was mindestens genauso interessant ist wie dieses aufsehenerregende Projekt: „Poll“ basiert lose auf den Memoiren dieser hochdekorierten, vergessenen Schriftstellerin. In denen sie ihren Kindheitsbesuch in der russischen Ostseeprovinz Estland kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs schildert. Die wechselhafte Historie dieser Region ist wenig bekannt: Deutsche Kreuzritter hatten im Mittelalter weite Teile des Baltikums erobert, gerieten dann aber selbst unter die Hegemonie des Zarenreichs. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts übte die russische Regierung immer stärkeren Druck auf die Deutschbalten aus. Nahmen ihnen mehr und mehr ihre Privilegien, ihre Kultur und ihre Vorherrschaft über die unterjochten Esten. 1939 wurden die letzten Deutschbalten ins „Dritte Reich“ umgesiedelt.
Nach 14jähriger Entwicklungszeit und dreijähriger Produktionsvorbereitung wurde „Poll“ im Sommer 2009 in einem fast unberührten Gebiet der südestnischen Ostseeküste, fernab aller modernen Infrastruktur, realisiert. Der sagenhafte Hauptdrehort, das im Stile der Renaissance-Architektur von Palladio entworfene Herrenhaus, wurde in sechsmonatiger Bauzeit auf Stelzen ins Meer gesetzt. Insgesamt über 1000 Komparsen, Hunderte von Kostümen, 150 Team-Mitglieder aus halb Europa und eine ganze Flotte von Baumaterialien mussten an den Drehort gebracht werden. So die offiziellen Produktionsnotizen. Die noch anmerken: „Die enormen logistischen Probleme und die damit verbundenen Produktionsherausforderungen konnten nur bewältigt werden, weil insgesamt 24 nationale wie internationale Fernsehredaktionen und Filmförderer gewonnen werden konnten. ´Poll` ist eine der ehrgeizigsten und aufwendigsten europäischen Filmproduktionen der letzten Jahre“. Hat insgesamt etwa 8 Millionen EURO gekostet. Und die vielen Mühen gelohnt. Denn SO VIEL RICHTIG GROSSES, OPULENTES DEUTSCHES KINO gab es schon ewig nicht mehr.
Das die Augen permanent füllt. Überfüllt. Denn die visuelle „Argumentation“ – Kamera: DANIELA KNAPP – steht hier nahezu gleichrangig neben der erzählerischen. Die auf diesem abgelegenen Gut Poll angesiedelt ist. Wo sich ein „merkwürdiges deutschbaltisches Adels-Volk“ versammelt hat, aufhält. Wie „irgendwie Farmer“, in einem „besetzten Terrain“, offenbar friedlich mit den Einheimischen zusammenlebend, auskommend. Man spricht russisch und deutsch. Kooperiert gegenseitig. Während der Leinwandtext informiert: „Estland 1914. Über die russische Ostsee-Provinz herrschen die Balten, Deutsche Barone, die dem Zaren ergeben sind und jeden Widerstand der seit Jahrhunderten unterworfenen Esten niederschlagen“. Und „die alte“ Oda im Off erläutert: „Solange ich denken kann, hat mein Vater für den Tod gelebt. Für DEN er eine große Zuneigung empfand. Eine größere vielleicht als für mich“. Denn Papa Ebbo (EDGAR SELGE) ist ein verschrobener, überkandidelt-besessener Hirnforscher und Traditionalist. Für DEN es „keine Änderungen/Veränderungen“ gibt. Geben wird. Niemals! Alles hat so zu sein, wie es war: ER ist der Patriarch, der „Erhalter“, und alles hat sich nach ihm zu richten. Sowohl „die Zeit“ wie auch die Menschen hier. Fanatisch widmet er sich seinen Studien „mit Gehirnen“. Die offiziell aber nicht die (wissenschaftliche) Anerkennung haben, die er sich so wünscht. „Seinen Katastrophen Platz einzuräumen“, resümiert Oda im Off, „ich hätte nie gedacht, dass diese Künste einmal die Wurzeln allen Übels sein könnten“. Mit 14 gelangt sie in diese „Heimat“. Die sterblichen Überreste ihrer Mutter im Schlepptau, mit der sie bis zu deren Tod in Berlin lebte. Und die nun hier, bei der Familie ihres geschiedenen Mannes, beigesetzt werden soll. Man lebt pompös hier. Adelig. Also herrschaftlich. Privilegiert. Dennoch beginnt die Fassade innerlich zu bröckeln. Des Forschers Ehefrau, eine Einheimische, Tante Milla (JEANETTE HAIN), pflegt eine „offene“ Affäre“ mit dem grantigen, aufmüpfigen Verwalter (RICHY MÜLLER). Während Oda auf „DAS Abenteuer ihres frühen Lebens“ stößt. Als sie einen verwundeten Anarchisten entdeckt und nicht ausliefert, sondern versteckt und pflegt. „Schnaps“ nennt sie ihn und er sich (TAMBET TUISK, ein in Estland bekannter Film- und Bühnenschauspieler). „Schnaps“ ist fortan in die pubertären Verstrickungen einer „emotional aufgeladenen“ 14jährigen eingebunden. Die ihn „behalten“ möchte. Oda ist zerrissen von der Zuneigung zu ihrem strengen Vater und jetzt zu „Schnaps“. Der eigentlich schnellst möglichst von hier weg will.
Wahre Geschichte und „windige“ Gefühle über „die Bewegung“ von Menschen zu zeigen, über die prachtvolle wie dekadente, opulente, grandiose Licht-Optik, das ist bevorzugt Hollywoods Requiem. Melodramatische Erinnerungen an „Doktor Schiwago“ und „Tod in Venedig“ hauchen herum. Motto:; Das Auslaufen einer Epoche. Inmitten einer „unruhigen“ Vater-Tochter-Story. Bzw. umgekehrt. An einem weit entfernten Ort dieser Welt. Wo es dem Deutschen Chris Kraus ebenso sinnlich, malerisch, nahegehend, herznah gelingt, ein atmosphärisches, spannendes Epos reizvoll zu gestalten, unaufgeregt zu erzählen, SEHR unterhaltsam auszubreiten. Weil eine prächtige Debütantin wie ein Naturereignis auftaucht: PAULA BEER, einst beim Jugendensemble des Berliner Friedrichstadtpalastes aktiv. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten süße wie erwachsene 14, trägt sie in/mit allen körpersprachlichen Nuancen ihre dominante Figur. Beherrscht neben den vorzüglichen Profis die eisig-faszinierende Szenerie, liefert eine geradezu unglaubliche Präsenz-Performance in Leib und Seele ab.
Was für eine Wahnsinns-Entdeckung! Und was für ein endlich einmal überzeugendes, kino-likes, furioses deutsches Leinwand-Schmankerl! Echt gute Breitwand-Unterhaltung (= 4 PÖNIs).