Philomena

PHILOMENA“ von Stephen Frears (GB/Fr/USA 2013; B: Steve Coogan, Jeff Pope, nach dem Buch „The Lost Child of Philomena Lee“ von Martin Sixsmith; K: Robbie Ryan; M: Alexandre Desplat; 98 Minuten; Start D: 27.02.2014); es ist ein Meisterwerk, das traurig, glücklich und innerlich SEHR wütend macht. In welcher Reihenfolge auch immer. Weil es auf Tatsachen beruht. MAGDALENENHEIME waren in Irland Einrichtungen für so genannte „gefallene Frauen“. Sie wurden in der Regel von katholischen Orden geführt und von Nonnen geleitet. Die Insassen wurden zumeist gezwungen, ohne Lohn täglich harte körperliche Arbeit wie zum Beispiel in heimeigenen Wäschereien zu verrichten. Die „gefangenen“ Mädchen waren zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet, mussten „Buße“ tun und wurden oft durch teilweise extreme Schläge misshandelt. Schätzungen zufolge wurden während der 150jährigen Geschichte dieser Institutionen bis zu 30.000 Frauen hier „untergebracht“. Festgehalten. Das letzte „Magdalenenheim“ in Irland schloss am 25. September 1996. Im deutschen Sprachraum wurden diese Einrichtungen durch den britisch-irischen Spielfilm „Die unbarmherzigen Schwestern“ bekannt, der 2002 beim Venedig-Festival den Hauptpreis, den „Goldenen Löwen“, zugesprochen bekam und bei uns im Januar 2003 in die Kinos kam (s. Kino-KRITIK).

Ihr Name: Philomena Lee (JUDI DENCH). Die Irin ist Ende 60 und verbirgt ein erschütterndes Geheimnis, das sie nun nicht länger gewillt ist, für sich zu behalten. Denn es „erdrückt“ sie immer noch und immer mehr. Ihre Tochter ist fassungslos: Als unverheirateter Teenager ist Philomena einst mit 17 schwanger geworden. Im streng katholischen Irland galt dies damals als Schande. Die Eltern schieben ihre Tochter ins Nonnenkloster Roscrea ab, wo sie ihren Sohn Anthony zur Welt bringt. Einmal am Tag darf sie ihn für eine Stunde sehen. Als „Entschädigung“ für die Unterkunft im christlichen Hause muss Philomena in der Wäscherei schuften. 7 Tage in der Woche, natürlich ohne jeglichen Lohn. Anthony ist drei, als der gefürchtete Tag kommt: die Weggabe. Denn mit der Geburt hier im Haus des Herrn hat sie sich auch verpflichten müssen, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Konkret: Das Kloster verkauft die Babys der „gefallenen Mädchen“ an begüterte Familien. Auch im Ausland. Anthony wechselt für 1000 Dollar in eine Familie aus Amerika. Ein Foto ist künftig alles, was Philomena an ihren Sohn erinnert. DEN sie über all die Jahre nicht vergisst. Natürlich nicht vergessen kann.

Jetzt, an seinem 50. Geburtstag, beschließt sie herauszubekommen, wo und wie er lebt. Und wie es ihm all die Jahre ergangen ist („Ich möchte wissen, ob Anthony jemals an mich gedacht hat, wie ich an ihn gedacht habe jeden Tag“). Deshalb wendet sie sich, unterstützt von ihrer Tochter, an den ehemaligen BBC-Korrespondenten und als Berater der Labour-Regierung gerade in Misskredit geratenen Journalisten und Autoren Martin Sixsmith. DER will erst gar nichts „davon“ wissen, eine „Human Interest“-Story zu schreiben. Doch dann fängt er erstes „Feuer“, zudem macht ihm auch seine Verlegerin Druck, die an einer profitablen Geschichte um „teuflische Nonnen“ sehr interessiert ist. Also begeben sich diese beiden völlig gegensätzlichen Menschen auf eine lange, sperrige Reise. Geographisch wie seelisch. Und ohne Unterstützung, denn die „aktuellen Nonnen“ geben verstockt an, wenig bis gar nichts zu wissen. Deshalb sind die Umwege, die Philomena und Martin (STEVE COOGAN) gehen müssen, auch ungemein schmerzhaft. Wie aber zugleich auch kauzig. Und durchsetzt mit leiser wie herrlicher stil- „britischer“ Situationskomik.

„PHILOMENA“ ist ein grandios intelligenter, hinreißend wehmütiger, vortrefflich HERZlicher wie gleichsam berührend- pointierter Menschenfilm.

Und kein „Rache-Drama“. Als etwa antireligiöses Pamphlet. Wie es wütende fundamentalistische Katholiken in den USA anlässlich des dortigen Kinostarts aufgebracht behaupteten. Schwachsinn: Denn Philomena, diese einfache, gerne nebenbei bekloppte Schundromane lesende und zitierende Frau, will nicht Anklage, sondern Vergebung. Die störrische, herzensgute irische Mutter hat ihren katholischen Glauben und ihren Respekt vor Priestern und Nonnen niemals aufgegeben. Obwohl DIE doch ihr Leben dermaßen schlimm „verändert“ und dadurch „gekennzeichnet“ haben. Ganz im Gegenteil: Auf ihrer Odyssee gegen die erlittene Niedertracht geht sie zwischendurch gerne seelenruhig beten und beichten. Was ihren „rationalen“ Journalistenbegleiter natürlich ein ums andere Mal in Rage versetzt. ER sieht übelste humane wie moralische wie juristische Verletzungen und will „richten“, sie setzt auf Vergebung. Aber eben nicht – mehr – aufs Vergessen. „Ich bin wütend“, schmettert er ihr entgegen. „Das muss sehr anstrengend sein“, entgegen sie souverän.

Wenn „so etwas“ funktionieren soll, benötigt es erstklassige Schauspieler. Und eines „speziellen“ Spielleiters. ER zuerst: STEPHEN FREARS, 1941 in der englischen Stadt Leicester geboren, zählt zu den bedeutendsten britischen Regisseuren. Seine Independent-Anfänge mit „Mein wunderbarer Waschsalon“, „Sammy und Rosie tun es“ sind heute Kult. 1991 erhielt er seine erste „Oscar“-Nominierung für das Drama „Grifters“. 1999 gewann er auf der Berlinale für „Hi-Lo Country – Im Land der letzten Cowboys“ den „Silbernen Bären“ für die „Beste Regie“. Mit Judi Dench realisierte er bereits 2005 seine Köstlichkeit „Lady Henderson präsentiert“. 2006 wurde er für sein Königs-Drama „Die Queen“ wieder für einen Regie-„Oscar“ nominiert, bekommen hat DEN aber seine großartige Hauptakteurin Helen Mirren. Hier nun findet er auf einzigartige Regie-Weise die Balance, tatsächlich wertungsfrei mit dem Stoff umzugehen und die tragischen wie komischen Akzente brillant und vor allem Nuancen- leise, behutsam, auszuspielen. Ohne sie zu diffamieren. Mit Pathos oder Zorn blind zuzuschütten. Oder sie mit oberflächlichen Klischees und übermäßiger Sentimentalität zu füllen. Stephen Frears ist ein Glanzstück an brillantem, sensiblem gesellschaftlichem Enthüllungsfilm gelungen. DER uns alle angeht und dabei süffisant –klasse unterhält.

STEVE COOGAN, Brite des Jahrgangs 1965, stammt aus einer irisch-katholischen Familie. Hat sich als Schauspieler (davor: „The Look of Love“ + „Das Glück der großen Dinge“), TV-Komiker (mit seiner Serie „Coogan’s Run“) und Drehbuch-Autor (wie hier auch/Drehbuch-Preis beim letztjährigen Venedig-Festival-Wettbewerb) und Produzent (wie hier auch) einen guten Namen gemacht. Als zunächst hochnäsiger Intellektueller, der sich eigentlich „mit so einer“ (Philomena) nicht abzugeben bereit ist, findet er hier genau diese richtigen, sprich reizvollen, sprich zurückgenommenen Schwingungen, um seinen Journalisten Martin Sixsmith von Höflichkeitsarroganz in zunehmende Verstehenspräsenz zu setzen. Ohne großspurig aufzutragen. Eine exzellente Begleiter- wie Stichwortrolle. Für die phänomenale „Oscar“-Lady JUDI DENCH (Nebenpart in „Shakespeare In Love“). Was hat sie nicht schon alles GROßE dargeboten: War eine überragend majestätische Queen Victoria in „Ihre Majestät Mrs. Brown“/1997; war als an Demenz erkrankte „Iris“ 2001 von ergreifender Nähe und stieg als „M“, Chefin von James Bond, in insgesamt sieben 007-Abenteuern von 1995 („GoldenEye“) bis 2012 (Skyfall“) zum Weltstar auf. Ihre ungeheure Anziehungskraft „wirkt“ auch hier. Als Philomena ist sie enorm spannend: Eben noch die verhuschte, schlichte, gläubige, unscheinbare Irin „von nebenan“, um gleich danach die zutiefst verletzte, willensstarke, mit dem Herzen denkende und argumentierende „andere“ Frau dominant vorzustellen, die ihr schicksalhaftes Trauma endlich bewältigen muss. Judi Dench: Begeisternd. Ohne Übertreibungen, körpersprachlich hochemotional. Ein Leben und dessen – gepeinigte – Seele werden sicht- und fühlbar. Unaufdringlich wach. Faszinierend würdevoll. Mit feinem Humor. Und zärtlicher Hochachtung vor dieser Philomena. Was für eine eindringliche, sensible, ausdrucksstarke Glanzdarbietung von JUDI DENCH, die vollkommen zu Recht erneut mit einer „Oscar“-Nominierung belobigt wurde.

Im Abspann werden die Fotografien mit der echten (und noch lebenden) Philomena belichtet. Und des echten Martin Sixsmith. Versehen mit dem Hinweis, dass gegen den zähen Widerstand der katholischen Kirche Irlands diesbezüglich immer noch Tausende Menschen auf der Suche nach ihren Kindern, Müttern und ihrem Frieden sind (= 5 PÖNIs).

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