„MADAME MARGUERITE ODER DIE KUNST DER SCHIEFEN TÖNE“ von Xavier Giannoli (Co-B + R; Fr/Tschechien 2014; Co-B: Marcia Romano; K: Glynn Speeckaert; M: Ronan Maillard; 129 Minuten; deutscher Kino-Start: 29.10.2015); wir wissen, was gut oder was schlecht ist. Welche Töne die „richtigen“, welche die „falschen“ sind. Abweichungen von diesen Benotungen… unmöglich. Es ist alles wertungsmäßig bestellt. Oder?
Frankreich in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts. Madame Marguerite Dumont (CATHERINE FROT) hat reich geerbt. Legal, wohlgemerkt. Auf ihrem Schloss unweit von Paris findet ein großes Benefizkonzert für Waisen des Ersten Weltkriegs statt. Eine Vielzahl von Musikliebhabern, Freunden der Familie, Bekannte und Neugierige versammeln sich. Der Höhepunkt des Abends: der Auftritt der Gastgeberin. Denn die Baronin frönt einer intensiven Leidenschaft: dem Gesang. Von Opernmusik. Allerdings – Madame kann nicht singen. Also gar nicht „richtig“. Sie trifft mit Inbrunst falsche Töne, besitzt eine hoffnungslos unharmonische Stimme, die Disharmonien sind qualvoll. Für jeden Zuhörer. Doch niemand wagt dies zu bemerken, gar öffentlich kund zu tun. Im Gegenteil, viel Beifall rundet ihren Auftritt ab. Ein anwesender junger Journalist und sein Kumpel, ein Anarchist, fassen es fasziniert nicht und hecken eine ironisch-provokante Kritik-Hymne in der Zeitung aus. Halb klug doppelbödig-verulkend, halb bewundernd über diesen aus ihrer Sicht ungewöhnlichen Auftritt einer mutigen Frau. Der ganz offenbar der totale Widerspruch zwischen ihrer künstlerischen Leidenschaft und ihrem musikalischem Unvermögen nicht bewusst ist. Die Folge: Madame beschließt überschwänglich a) noch mehr zu üben, b) einen ebenso zynischen wie ziemlich abgehalfterten Opernstar (samt seinem schmierigen Gefolge) zu engagieren, damit er ihre Stimme noch mehr „schult“ und c) die Verwirklichung ihres großen Traums anzugehen, ein Konzert in der Pariser Oper zu geben. Welches schließlich zu einem sagenhaften Ereignis werden soll.
Der Film von Co-Drehbuch-Autor und Regisseur XAVIER GIANNOLI („Chanson D´Amour“/s. Kino-KRITIK) kann sich vorzüglich sehen und schräg anhören lassen. „Marguerite“, so der Originaltitel, wurde inspiriert von einer wahren Person: Florence Foster Jenkins (*1868 – †1944). Die reiche US-Erbin war bereits 44 Jahre alt, als sie 1912 mit einer unbeschreiblich schlechten Stimme erstmals vor Publikum auftrat. Auch wenn es angesichts ihres fatalen Gesangs unglaublich klingt, aber schon bald konnte Florence auf eine beachtliche Reihe treuer Fans zählen. Die sich klammheimlich auf ihre Kosten köstlich amüsierten. Nichts und niemand konnte Florence von ihrer falschen Selbsteinschätzung und tragikomischen Selbstüberschätzung abbringen. 1944 mietete sie schließlich für einen Abend den Hauptsaal der New Yorker Carnegie Hall. Das einmalige Konzert war Wochen vorher ausverkauft. Die sarkastischen Zeitungskritiken am nächsten Tag waren vernichtend. Nur eine Woche nach diesem denkwürdigen Abend erlitt die alte Dame einen Herzinfarkt. „Die Leute können vielleicht behaupten, dass ich nicht singen kann, aber niemand kann behaupten, dass ich nicht gesungen hätte“, steht auf ihrem Grabstein.
CATHERINE FROT, 59, adelt jeden französischen Film. Ist auch bei uns über Filme wie „Zwei ungleiche Schwestern“; „Das Mädchen, das die Seiten umblätterte“, „Odette Toulemonde“ (s. Kino-KRITIK) oder „Die Köchin und der Präsident“ (s. Kino-KRITIK) bekannt geworden. Die neunmal für den „César“ nominierte Charakterschauspielerin, einmal hat sie ihn gewonnen, 1997 als „Beste Nebendarstellerin“ in „Typisch Familie!“, vermag hier den schwierigen Part zwischen Eigentlicher-Künstler-Witzfigur und dominanter Vertreterin ihres Willens und Wollens grandios wie einfühlsam vorzustellen. „Mit wohldosierter Exzentrik“ („epd Film“), die sie nie lächerlich erscheinen lässt, aber auch nicht als märchenhafte Gewinnerin aufbaut. Der Zwiespalt zwischen Spott-Figur und Menschen-List gelingt ihr formidabel. Eine erneut erstklassige Performance von Catherine Frot.
Exzellent aber auch die fein opulente Ausstattung im reichen Hause von Madame, mit dem schmucken Dekor jener Epoche, sowie die bestechende Zeichnung etlicher Nebenfiguren wie Michel Fau als ausflippender Gesangstrainer und Denis Mpunga als behutsam lenkender „Zugehmann“ und enger, sensibler Vertrauter von Marguerite. Was für ein atmosphärisches wie (im wahrsten Sinne) spitzzüngiges Vergnügen von französischer Drama-Komödie. Die übrigens demnächst „wiederholt“ wird; niemand geringeres als Stephen Frears plant ein US-Remake; Titel: „Florence Foster Jenkins“; mit Meryl Streep in der Hauptrolle (= 4 PÖNIs).