LINO VENTURA

LINO VENTURA

„Die spinnen, die Amerikaner“

Bekannt aus Filmen wie:

„DAS VERHÖR“ von Claude Miller (Co-B + R; Fr 1981; Co-B: Jean Herman, Michael Audiard; nach dem Roman „Gehirnwäsche“ von John William Wainwright/1979; K: Bruno Nuytten; M: Georges Delerue; 86 Minuten; deutscher Kino-Start: 18.02.1982; s. Kino-KRITIK).

Der französische Schauspieler Lino Ventura über den Schauspieler Ventura, über Gangsterfilme, über Komödien, über seine Kollegen, über die französische Politik, über Hollywood und über Sport. Mit Lino Ventura sprach Hans-Ulrich Pönack; TIP 6/82.

TIP: Obwohl Sie in Ihren Filmen immer Figuren spielen, vor denen man Respekt haben muss, manchmal sogar Angst, stellen Sie trotzdem so eine Art Vaterfigur dar. Als Kind aber braucht man bestimmt keine Angst vor Lino Ventura zu haben. Und so gibt es im Moment auch einen Schlager, wo ein Kind singt, dass es Lino Ventura gerne als Pa haben möchte.

Ventura: Ich bekomme tatsächlich unheimlich viel Post von kleinen Jungen und Mädchen, die mir schreiben, dass sie mich gerne als Vater hätten.

TIP: Ist Ihnen das unangenehm?

Ventura: Nein, überhaupt nicht. Nur, ich kann deren Wünsche leider nicht erfüllen. Weiß auch nicht genau warum, aber mein ganzes Leben lang hat man mich trotz meiner Rollen immer als Beschützerfigur gesehen. Ich helfe natürlich gerne, wenn jemand schwach ist, wenn es jemandem schlecht geht. Aber von mir nimmt komischerweise niemand an, dass es mir mal nicht gutgehen könnte. Ich muss immer stark und hart sein und das ist nicht immer leicht. Denn ich habe das Gefühl, dass ich nie eine Schwäche zeigen darf.

TIP: Damals in den 50er Jahren waren Sie ja zunächst Berufsringer. Wie kamen Sie zum Film?

Ventura: Durch einen Unfall. Ich war zu der Zeit Trainer bei einem Sportverein, und man fragte mich, ob ich bei einem Film mitmachen wollte. Ich dachte, ich müsste dort irgendjemand betreuen und bin hingegangen. Als ich jedoch bemerkte, dass ich spielen sollte, wollte ich wieder gehen. Aber irgendwie bin ich dann doch geblieben.

TIP: Wie war denn zu dem Zeitpunkt Ihr Verhältnis zum Kino?

Ventura: Oh ja, schon damals war ich kinoverrückt. Ich bin in alle möglichen Filme gegangen, vor allem amerikanische. Aber die jungen Leute, die sich damals die ganzen Western anschauten, galten bei uns in Frankreich als eine Art Analphabeten, also Kulturbanausen. Aber ich liebte nun mal Fonda, Bogart, Cooper, Tracy, aber auch Paul Muni oder George Raft und die ganzen anderen Kerle.

TIP: Haben Sie eigentlich jemals eine Schauspielschule besucht?

Ventura: Nein, niemals.

TIP: Ihre ersten Rollen waren hauptsächlich die von Unterweltlern, die von Gangstern. Raue Burschen mit einem weichen Kern. Später wechselten Sie dann immer öfter ins andere Lager und spielten Polizisten. Aber immer blieben Sie in diesem Milieu. Welche Rolle ist Ihnen darin lieber?

Ventura: Diese Frage stellt man mir immer wieder. Aber das liegt nicht am Charakter der Rolle, sondern immer nur an der Geschichte. Wenn mir morgen wieder so eine Rolle wie in „Der zweite Atem“ angeboten würde, mache ich das sofort. Die Story muss mich faszinieren, das allein ist entscheidend.

TIP: Aber die Zuschauer identifizieren Lino Ventura nur mit diesen Rollen-Typen.

Ventura: Es gibt nichts Leichteres zu machen als einen schlechten Krimi. Von dem spricht dann bald keiner mehr. Aber wenn die Story gut ist, und ich meine, dass ich das merken kann, wenn ich ein Drehbuch lese, dann identifizieren sich die Zuschauer sehr viel leichter mit den Figuren in einem Film. Wenn man zum Beispiel von Paul Muni spricht, dann denkt man sofort an „Scarface“.

TIP: Und an welchen Film denkt man bei Ventura?

Ventura: Na, da gibt es zum Glück viele. Manchmal aber ärgert es mich auch, dass man bei mir nur die Krimis assoziiert. Ich habe viele Filme gemacht, die keine Krimis sind.

TIP: Durch die Mystifizierung der Gangsterfilme bekamen die Kriminellen eine Stellung, eine Art romantische Bedeutung, die sie in der Realität nicht haben sollten.

Ventura: Das ist ein Problem. Ich habe deshalb immer versucht, diese Figuren zu entmythologisieren.

TIP: Was Ihnen gottseidank nie gelungen ist. Denn wir liebten Sie gerade auch deshalb, weil Sie in Ihren Rollen etwas von dem verkörperten, was wir nie sein dürfen, aber gerne mal wären.

Ventura: Ich glaube auch, dass das so ist.

TIP: Haben Sie sich jemals verbraucht oder verschlissen gefühlt in bestimmten Rollen? Beispielsweise in den vielen Gangster-Rollen?

Ventura: Nein, überhaupt nicht. Wenn mir morgen ein guter Gangster-Stoff angeboten würde, dann mache ich das sofort. Aber der muss schon sehr gut sein, denn ich habe allein im letzten Jahr über 200 Drehbücher abgelehnt.

TIP: Sie waren sehr eng mit Jean Gabin befreundet.

Ventura: Das ist richtig. Und weil diese Freundschaft sehr eng und privat gewesen ist, möchte ich darüber nichts sagen. Meine besten Freunde waren Jean Gabin, Jacques Brel und Georges Brassens, und alle drei sind schon tot.

TIP: Und wie ist Ihr Verhältnis zu Star-Kollegen wie Jean-Paul Belmondo oder Alain Delon?

Ventura: Sehr freundschaftlich, aber wir sehen uns nur im Beruf, nicht privat.

TIP: In Deutschland wurde Jean-Pierre Melville sehr lange verehrt, er gilt hierzulande inzwischen als so etwas wie eine Kultfigur. Sie haben auch eine ganze Zeit mit ihm zusammengearbeitet.

Ventura: Melville war ein seltsamer Mensch. Er lebte in seiner eigenen Welt. Das einzige, was er ständig um sich herum hatte, waren Katzen, und er lebte nur nachts. Er war irgendwie jemand, an den nie richtig heranzukommen war.

TIP: Gute Kriminalfilme werden seit Melville kaum mehr gemacht. Bei uns ist es mit dem Genre ziemlich bergab gegangen, der Rest ist simples Fernsehen. Frankreich hat da wohl mehr seine Krimi-Tradition wahren können?

Ventura: Nein. Auch bei uns sind die Geschichten im Laufe der Zeit immer ärmlicher geworden, weil ein Krimi ziemlich einfach zu machen ist. Und so haben viele sich darin versucht, und viele sind eben sehr schlecht. Bei uns gibt es die besten im Fernsehen, und das sind die alten Kinofilme von früher.

TIP: In Ihren Filmen zieht sich ja wie ein roter Faden vorwiegend ein Thema durch: Männerfreundschaften.

Ventura: Ja, für solche Themen habe ich schon eine gewisse Vorliebe. Genauso wie ich Figuren mag, die einsam sind. Das entspricht eben meinem Temperament. Für mich ist die Männerfreundschaft ein reichhaltiges Thema, dem man unendlich viel entziehen kann.

TIP: Das ist mit Sicherheit auch ein Grund, weshalb sich so viele mit Ihren Filmfiguren, aber auch mit Ihnen selbst identifizieren.

Ventura: Ohne Zweifel. Denn die größten Filme in der Filmgeschichte behandeln fast alle eine Beziehung zwischen Männern, und die Schauspieler solcher Filme wurden geliebt und gelangten zu Starruhm. Das hat aber nichts mit Misogynie zu tun.

TIP: Obwohl man Ihnen den Frauenfeind eine Zeitlang immer wieder vorgeworfen hat.

Ventura: Na ja.

TIP: Sie haben aber auch andere Rollen gespielt. Sie waren auch in Komödien, zum Beispiel in „Die Filzlaus“, zu sehen.

Ventura: Ich würde mich selbst aber nicht als sehr komisch bezeichnen. Dazu tauge ich nicht. Wenn ich in einer Komödie mitspiele, muss die Situation komisch sein. Und wenn die Geschichte gut ist, macht mir das auch sehr viel Spaß.

TIP: Haben Sie nach so vieler Arbeit vor der Kamera nicht auch mal Lust, hinter der Kamera zu arbeiten? Selbst mal einen Film zu inszenieren?

Ventura: Nein, auf keinen Fall. Ich fühle mich wohl in der Position, in der ich mich befinde, außerdem bin ich sehr faul und interessiere mich keinen Deut für Technik.

TIP: Man hört aus Frankreich viel von den großen Stars, aber nur sehr wenig aus deren Privatleben. Man sagt, sie würden nur zum Drehen nach Paris kommen und sich danach sofort wieder aufs Land zurückziehen, abgeschirmt und unerreichbar. Ist das mit Ihnen auch so?

Ventura: Nun, das finde ich ganz gut, auch mein Privatleben ist privat. Wenn ich darüber etwas erzählen würde, wäre es das ja nicht mehr. Aber wenn Sie etwas wissen wollen: Ich nehme keine Drogen, trinke nicht, bin seit 40 Jahren mit derselben Frau verheiratet und schon lange Großvater. Ich spiele wie viele Franzosen gerne Boule, sitze abends gerne mit meiner Frau vor dem Kamin, koche gerne und esse ebenso gerne. Also wenn Sie Kokain in meinen Taschen suchen, werden Sie enttäuscht sein.

Presseleute haben in meinem privaten Bereich keinen Zutritt, ich würde sie sofort rausschmeißen. Ich gebe auch schon seit Jahren fast keine Interviews mehr. Ich kann mich schließlich nicht nackt in der Badewanne fotografieren lassen wie Marilyn Monroe. Ich bin, alles in allem, so wie ein Zug, der pünktlich ankommt, und das interessiert die Journalisten normalerweise nicht so sehr.

TIP: Wir haben im letzten Jahr mit sehr viel Hoffnung den politischen Machtwechsel in Frankreich beobachtet, aber viele ihrer Landsleute sollen inzwischen davon enttäuscht sein. Wie stehen Sie zu den Entwicklungen bei Ihnen?

Ventura: Leider ist das auch nur Heuchelei und Maskerade wie die Politik in der ganzen restlichen Welt. Ich habe das Gefühl, so langsam wieder in eine Zeit zu schliddern, die wir hatten, als ich 18 Jahre alt war. Davor habe ich große Angst (Ventura wurde am 14. Juli 1919 geboren – d. Red.).

Ich war 1961 zufällig an dem Tag in Berlin, als die Mauer gebaut wurde, und das war eines der schlimmsten und eindringlichsten Erlebnisse in meinem Leben, das ich nie vergessen werde. Ich habe gesehen, wie man eine schwangere Frau bei der Flucht über die Mauer erschossen hat, und die Leute standen da und schauten zu. Die Leute beobachten wie Voyeure das grausame Elend, das um sie herum geschieht und klopfen trotzdem ihren Nachbarn und Freunden auf die Schulter und sagen, hallo, wie geht‘s. Sie tun so, als würde sie das alles gar nichts angehen. Man findet sich damit ab, spricht über Freiheit und Humanität, das ist ein Hohn.

TIP: Deswegen auch die Hoffnungen in die neue französische Politik.

Ventura: Ich bin da nicht so sicher, ich beobachte und warte ab. Sehen Sie, ich glaube nicht an die Gleichheit der Menschen. Der Mensch ist ein sehr grausames, gemeines und eitles Tier, das immer versuchen wird, über einen anderen zu triumphieren. Sie können das Brot teilen, aber davon haben wir keine Gleichheit. Geld kann man nicht teilen.

TIP: In Ihren Filmen sind Sie meistens der Gerechte, der Humane, selbst als Gangster. Und das hat ja auch was mit Ihnen, mit Ihrer Persönlichkeit zu tun. Fühlen Sie sich von daher irgendeiner Politischen Richtung zugehörig?

Ventura: Wenn, dann will ich zu den alten romantischen Anarchisten gehören. Denn ich habe von Politikern einen sehr schlechten Eindruck. Es gibt wenige unter ihnen, die der Macht widerstehen können. Und ich bin auch einer der wenigen in Frankreich, die Napoleon für einen grausamen Mörder halten und nicht für einen großen Helden. Er hat unzählige Menschen umbringen lassen, und das macht ihn vergleichbar mit den schlimmsten Männern der Geschichte. Im Namen der Freiheit ist schon mehr Blut vergossen worden als für irgendeine andere Idee. Alle, die mich für irgendetwas einspannen wollen, für die habe ich nur ein „Merdé“ (deutsch: „Scheiße“ – die Red.) übrig. Etwas, wofür ich in Frankreich kämpfe, das sind die Behinderten. Ich habe selbst einen behinderten Sohn und habe vor 20 Jahren die ‚Schneeglöckchen-Stiftung‘ gegründet.

Die baut Heime für Behinderte, die dort ihr ganzes Leben bleiben dürfen. Denn das größte Problem ist bei den Behinderten, dass sie niemand mehr haben, der sich um sie kümmert, wenn ihre Eltern sterben. Vor kurzem wollten wir wieder ein Heim in einer Kleinstadt in der Nähe von Paris bauen und mussten gegen den vehementen Widerstand der Einwohner ankämpfen. Die wollten so etwas nicht in ihrer Stadt. Und ich sage Ihnen, so etwas macht mürbe. An solch Punkten merke ich, dass ich sehr einsam bin. Aber ich bin auch hart im Nehmen, bislang kann ich’s noch vertragen.

TIP: Ich muss doch noch mal zum Kino zurück. Warum hat man Sie nie in einem Hollywood-Film gesehen? Hatten Sie keine Lust, auch mal dort zu arbeiten?

Ventura: Das hat ein bisschen mit Ehrgeiz zu tun. Denn die Rollen, die mir von dort angeboten wurden, hätte ich in Frankreich nie angenommen. Und man soll mir nicht nachsagen, dass ich sowas nur gemacht hätte, um mal in Amerika zu arbeiten. Ich habe schon Absagen an Steven Spielberg, Francis Ford Coppola, Sydney Pollack oder William Friedkin gegeben, obwohl ich mit Pollack und Friedkin befreundet bin. Die Amis sind schon ein seltsames Völkchen. Zum Beispiel sollte ich in Coppolas „Apocalypse Now“ die Rolle eines bescheuerten französischen Offiziers spielen, den es dann später im Film sowieso nicht mehr gegeben hat. Bei Spielbergs „Unheimliche Begegnung der Dritten Art“ sollte ich die Rolle von Francois Truffaut spielen, auch uninteressant. Abgesehen davon bin ich von den heutigen amerikanischen Filmen überhaupt nicht mehr beeindruckt.

Eine schöne Geschichte hat sich im letzten Sommer abgespielt, als ich zu Hause ein paar freie Tage verbrachte. Da rief Terence Young aus Seoul an und sagte, Lino, ich mache gerade einen Film und du musst unbedingt herkommen, ich habe eine ganz tolle Rolle für dich. Kurz darauf bekam ich das Drehbuch aus Los Angeles geschickt, ein mächtiger Schinken. Und dann habe ich gelesen und gelesen und gesucht, was ich denn nun spielen soll. Und schließlich, auf den letzten beiden Seiten, fand ich dann meine Rolle: das war die eines türkischen Offiziers, der im seidenen Morgenrock und mit einer Zigarettenspitze bewaffnet einmal auf- und abgehen musste, in einem Raum, wo sich außerdem noch eine Dame, Jacqueline Bisset, befand. Das war alles. Die spinnen, die Amerikaner.

TIP: Konnten Sie sich ein derartiges Verhalten schon immer leisten? Wie steht‘s denn dabei mit der ökonomischen Abhängigkeit?

Ventura: Das konnte ich nicht nur, das musste ich einfach auch. Wenn es nicht gegangen wäre, wie ich es wollte, hätte ich eben zwischendurch was Anderes gearbeitet. Ich war ja früher Berufssportler, und das hat viel Ähnlichkeit mit der Filmarbeit. Das heißt, wenn man von Anfang an Konzessionen macht und sich unter den Tisch ziehen lässt, um nachher wieder aufzutauchen, ist das sehr unangenehm. Vielleicht bin ich etwas zu stolz, aber meine Devise „Alles oder Nichts“ hat mir noch nie geschadet.

TIP: Es kommen im Moment sehr viele neue Technologien im Medienbereich auf uns zu, die das Kino immer mehr zerstören können.

Ventura: Ja sicher. Aber einen Film auf Video zu sehen, ist eine Sache. Das ist nie vergleichbar mit der Atmosphäre in einem Kino, wo sich erst der ganze Reichtum eines Films entfalten kann. Und solange es gute Filme gibt, wollen sie die Leute auch im Kino sehen. Bei der Qualität sehe ich keine Bedrohung. Man braucht sich doch nur dieses unglaublich miese TV-Programm in den USA anzuschauen, da muss doch jeder vernünftige Mensch einen Horror bekommen und lieber ins Kino gehen. So ein Autor dieser Fernsehserien schreibt davon wahrscheinlich zehn Folgen pro Nacht, ist doch klar, dass da nur noch Schwachsinn herauskommt. Und wenn das Kino in einer Krise sein sollte, dann kann das immer nur eine Krise der Kreativität sein, nichts anderes.

Es braucht eben seine Zeit und ist unheimlich schwer, eine gute Filmgeschichte zu entwickeln. Beim Fernsehen dagegen ist schnelles Geld zu machen. Wir müssen uns die Schuld selbst zuschieben, wenn nicht mehr so viele Leute ins Kino gehen. Das hat nichts mit der Konkurrenz des Fernsehens zu tun, sondern damit, dass das Niveau der meisten Filme mies ist. Ich freue mich, dass das Kino vom intellektuellen Snobismus und Terrorismus weitgehend befreit ist. Es gab eine Zeit in Frankreich, wo die Intellektuellen die Nase rümpften, wenn ein Film kommerziell Erfolg hatte. Aber was heißt das, kommerziell? Es interessiert mich nicht die Bohne, ob meine Mutter noch mit ihrem Hund ins Bett geht…

TIP: Was hat Sie an der Kommissar-Rolle in „Das Verhör“ so interessiert, dass Sie sie angenommen, akzeptiert haben?

Ventura: Ich habe den Film gemacht, weil ich in der Geschichte ein sehr interessantes und wichtiges Thema sehe. Es ist eine riskante Sache und durchaus nicht selbstverständlich, die ganze Zeit nur zwei Männer in einem Raum zu zeigen. Diese Situation hat mich unheimlich gereizt, bei der es nicht so wichtig ist, ob das jetzt ein Polizist und ein Gangster oder ob das nur zwei Gangster sind. Außerdem hatte ich große Lust, mit Claude Miller zu arbeiten, weil ich den schon kennengelernt hatte, als er noch Assistent war. Ich bin mit ihm befreundet, und das ist wichtig für eine gemeinsame Arbeit. Nur das zählt, und die gemeinsame Liebe zum Kino, und nicht, ob das jetzt ein berühmter Regisseur ist. Ich habe mit sehr vielen Regisseuren in deren Debütfilm mitgespielt.

TIP: Würden Sie auch mal in einem deutschen Film mitspielen?

Ventura: Na klar, warum nicht. Aber ich muss noch einmal betonen, dass dabei die Geschichte und nicht der Regisseur das Wichtigste für mich ist.

TIP: Haben Sie eigentlich heute noch irgendwie Beziehung zu Ihrem früheren Beruf, dem Sport?

Ventura: Ja. Ich liebe nach wie vor das Gefühl, nackt in der Umkleidekabine zu stehen. Ich muss immer noch Sport treiben. Der Tag, an dem ich keinen Sport mehr machen kann, an dem wird es Papa Ventura sehr schlecht gehen. Obwohl ich natürlich mit den jungen Sprintern nicht mehr mithalten kann.

TIP: Aha. Dann kommen jetzt wohl bald die Rollen der großen alten Männer auf der Leinwand?

Ventura: Jetzt noch nicht, später vielleicht.

VIDEO-TIPS mit Lino Ventura-Filmen in der TIP-Ausgabe 24/1990:

Er hieß Angelo Borrini und kam am 14. Juli 1919 als Sohn eines kleinen Exportkaufmanns in der norditalienischen Käsestadt Parma auf die Welt. Als er 8 Jahre alt war, siedelte die Familie nach Paris über. Schon in der Schule fiel er mehr durch sein Talent als Raufbold, denn durch besondere fachliche Leistungen auf. Seine Laufbahn begann er als Mechaniker, Botenjunge, Stallbursche, Zeitungsverkäufer, Handelsvertreter und – als Ringer. Sein Glück, denn er hatte Pech.

Mit einem zweifachen Beinbruch fand sich 1953 der Europameister im Mittelgewicht im griechisch-römischen Stil auf dem Boden der Tatsachen wieder. Dort erwartete ihn der Ringkampf-Fan und Regisseur Jacques Becker und gab dem Haudegen eine kleine Rolle in seinem Film „Wenn es Nacht wird in Paris“. Fortan war er auf Gangsterrollen und den neuen Namen festgelegt: LINO VENTURA. In den folgenden Jahren wurde er zum beständigsten Schauspieler im französischen Kriminal- und Gangsterfilm. Einige seiner besten Auftritte: „Der zweite Atem“ (Jean-Pierre Melville; 1966), „Die Abenteurer“ (Robert Enrico; 1966/Der Rollenwechsel zum “Normal“bürger), „Armee im Schatten“ (Jean-Pierre Melville; 1969), „Ich – Die Nummer Eins“ (Claude Pinoteau; 1972).

Von der Edition “Atlas Film und Zweitausendeins“ sind jetzt fünf Ventura-Filme “danach“ als Kauf-Kassettenpack erschienen. Fünf Filme, die vor allem die Wandlungsfähigkeit dieses hervorragenden Darstellers vom sturen Milieu-Interpreten zum Charaktermimen belegen.

In „Die Filzlaus“ (Édouard Molinaro; 1973) spielt Lino Ventura zwar einen Berufskiller, doch kommt der einfach nicht dazu, seinen Job auszuführen, weil die Zimmernachbarschaft im Hotel zu einem depressiven Ehemann und potentiellen Selbstmordkandidaten (köstlich: Jacques Brel) zu chaotischen und komischen Situationen führt. Der Stoff wurde 1981 von Billy Wilder in Hollywood unter dem Titel „Buddy, Buddy“ mit Walter Matthau (in der Ventura-Rolle) und Jack Lemmon wiederverfilmt. 1975 wechselte er die Seiten. Aus dem Gangster wurde ein Polizist. Als Hauptkommissar Verjeat hatte er in „Adieu, Bulle“ (Pierre Granier-Deferre) vor allem zu viel Gerechtigkeitsbewusstsein. Weil er die Korruption in den eigenen Reihen nicht mitmacht und sich hartnäckig mit einflussreichen Provinzpolitikern anlegt, ist er am Ende nur moralischer Sieger. Ein zynischer Solist in einer gemeinem, verkommenen Welt, d i e Paraderolle für Lino Ventura.

4 Jahre danach ist er ein Ex-Pilot, der in Kanada seinen Sohn sucht und durch dessen kriminelle Machenschaften selbst in Gefahr gerät. In „Ein Mann in Wut“ (Claude Pinoteau; 1980) bekommt Lino erstmals mehr Prügel als er austeilt. Der Stoff jedoch erweist sich nur als Routine-Krimi, der nur durch die Mitwirkung von Partnerin Angie Dickinson etwas aufgelockert wird. Aber Lino in Kanada, das ist wie Erdbeersuche im Schnee. Zurück in Frankreich kommt Ventura wieder in Topform. 1981 schlüpft er wieder einmal in die Rolle eines Polizisten. Diesmal jedoch ist er kein heldenhafter Positiv-Typ, sondern tritt höchst zwiespältig auf und muss nicht schießen, sondern reden. Denn in „Das Verhör“ (Claude Miller; s. auch Kino-KRITIK) geht es nur vordergründig um einen Kriminalfall und in der Hauptsache um das faszinierende, spannende Sprach-Duell zweier charakterlich völlig unterschiedlicher, aber gleichrangiger Gegner. Michel Serrault als Intellektueller und Mordverdächtiger ist ideal besetzt und bietet lange Paroli. Zum großartigen Ensemble zählen noch Romy Schneider und Guy Marchant. “Das Verhör“ ist ein superbes Kammerspiel als Western in der Stube.

Der Abschied kam unverhofft und viel zu früh. Lino Ventura starb am 22. Oktober 1987. Sein letzter Film ist hierzulande nur auf Video herausgekommen. In „Tödliche Angst“ (Claude Pinoteau; 1984) spielt der Franzose einen ehemaligen Journalisten, der als erfolgreicher Buch-Autor gut lebt. Das ändert sich durch anonyme Anrufe und Drohungen, die immer mehr zum Alptraum werden, dessen Aufklärung ihn schließlich auch nach Berlin führen. Stichwort: Kunstdiebstahl. Ein wirrer, wenig plausibler und interessanter Stoff, der nur und ausschließlich von der Mitwirkung Lino Venturas lebt. Einem Individualisten und Solisten, dem man von Karriere-Beginn an gerne begegnete, der ein Kino-Typ im besten („Bogey“-) Sinne war und dessen Lücke nicht zu schließen sein wird.

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