LEVIATHAN

PÖNIs: (4,5/5)

„LEVIATHAN“ von Andrei Petrowitsch Swjaginzew (Co-B + R; Russland 2013; Co-B: Oleg Negin; K: Mikhail Krichman, M: Philip Glass; 140 Minuten; deutscher Kino-Start: 12.03.2015); LEVIATHAN, aus dem Hebräischen: „der sich Windende“, ist der Name für ein See-Ungeheuer aus der jüdisch-christlichen Mythologie. Enthält Züge eines Krokodils, eines Drachens, einer Schlange und eines Wals.

THOMAS HOBBES (*5. April 1588 – †4. Dezember 1679), der englische Mathematiker, Staatstheoretiker und Philosoph, wurde durch sein Hauptwerk „Leviathan“ bekannt, in dem er eine Theorie des „Absolutismus“ entwickelte: aus der biblischen Kreatur wird die Allmacht des Staates gegenüber der hilflosen Kreatur = des menschlichen Individuums. Ergibt: der ewige Pakt des Menschen mit dem „Teufel“ Staat.

Die Barentssee ist ein Randmeer des Arktischen Ozeans, gehört zum nördlichen Teil von Russland. Hier an der abgeschiedenen Küste der Barentssee herrscht ein „Leviathan“. Ein machtbesessener korrupter Bürgermeister. In einem Jahr stehen Wiederwahlen an, da möchte er „prächtig glänzen“. Im System, in der Öffentlichkeit. Für sich. Das lukrative Grundstück mit Meeresblick, das er für sich begehrt, um als regionaler „König“ auch äußerlich etwas „vorzeigen“ zu können, gehört dem Mechaniker Nikolay (ALEKSEY SEREBRYAKOV). Der hier mit seiner zweiten Frau Lilya und seinem Sohn aus erster Ehe, Roma, lebt. Seit Generationen ist die Immobilie im Besitz seiner Familie. Als heftige Worte mit einem (bescheidenen) Geld-Angebot nichts ausrichten, wird das politische Oberhaupt Wadim (faszinierend speckig -widerlich: ROMAN MADYANOV) „deutlicher“. Setzt alle amtlichen wie inoffiziellen wie klerikalen Hebel in Bewegung. Will die „legale“ juristische Enteignung. Und bedient sich zunehmend auch „direkter Gewalten-Hilfe“. Von guten Kumpanen. Das korrupte Gericht macht und spielt mit. Doch Nikolay hat noch ein Trumpf-As im Ärmel: Dmitri (VLADIMIR VDOVICHENKOV), ein alter Freund aus Armee-Zeiten, der mittlerweile als erfolgreicher Anwalt in Moskau tätig ist. Und mit einem Dossier aufwarten kann, das die kriminelle Vergangenheit des skrupellosen Lokal-Politikers belegt. Dokumentiert. Die Fronten verhärten sich. Doch der örtliche Pate – mit einem Putin-Bild hinter sich an der Wand – kann auch mit der Unterstützung, der Absolution, durch die unheilige Allianz mit orthodoxen Kirchenvertretern punkten, deren Leitfaden-Heuchelei Unerträglichkeitsschmerzgrenzen erreicht. Übersteigt. So nimmt das „gott-gewollte“ Geschehen seinen bitteren, ekligen Verlauf.

Der kleine Mann aus dem Volk, ein Typ Marke unbeherrschter „Michael Kohlhaas“, gegen das ganze verdammte korrupte System. Der am 6. Februar 1964 in Nowosibirsk geborene Drehbuch-Autor und Regisseur ANDREI PETROWITSCH SWJAGINZEW, der 2003 mit seinem Low Budget-Debütfilm „The Return – Die Rückkehr“ beim Venedig-Festival den Hauptpreis, den „Goldenen Löwen“, zugesprochen bekam und danach die vielfach international dekorierten Filme „Die Verbannung“ (2007) sowie „Jelena“ („Sonderpreis der Jury“ beim Cannes-Festival 2011) schuf, erzählt von keiner puren Gut-Böse-Geschichte, sondern bietet einen differenzierten Blick auf ein offensichtlich nur noch theoretisches Demokratiegebilde Russland. In dem sich die Menschen wie Marionetten bewegen und sich betäuben, es wird ständig extrem gesoffen, um die garstige Szenerie des Seins geduckt durchlaufen zu können. Während die Obrigkeit „macht“. Und säuisch „schafft“.

„Leviathan“ ist eine voll an den entsetzten Kopf knallende, erschütternde Ballade über die heutige hoffnungslose Moral in der russischen Gesellschaft. Wo ein arktischer Hiob (letztlich) „lächerlich“ gegen Gier, Machtmissbrauch und Korruption aufbegehrt. Und damit seinen eigenen Untergang einläutet. Die grandiose Parabel über die gegenwärtige Moral innerhalb der russischen Gesellschaft ist begleitet von dieser einnehmenden landschaftlichen Schönheit hier. Wobei über raffiniert montierte Cinemascope-Bilder die innere Seelen-Zerrissenheit dieser Region vehement dokumentiert wird: eine prachtvolle, archaische Landschaft, in der Gerippe von verrotteten Fischerbooten und das gigantische Skelett eines gestrandeten Wals taumeln. Und Abbruch-Häuser den Zerfall dokumentieren.

Einmal, sich tief eingrabend, werden Schießübungen veranstaltet. Aus Geburtstags-Lust und Saufgelage-Laune. Dabei wird auf Holzbilder vergangener Politiker gezielt. Breschnew, Nixon, Jelzin. Auch Gorbatschow. Die ganze Spuk-Parade von gestern. Aktuelle sind nicht dabei. Zu ihnen existiert noch keine „historische Distanz“.

Der Film „LEVIATHAN“ hat etwa umgerechnet 3,4 Millionen Dollar gekostet. 35% davon kamen aus dem Etat des Russischen Kulturministeriums. Von dort kommen jetzt Vorwürfe, er „verunreinige die nationale Kultur“. „So etwas“ dürfe nicht mehr gefördert werden. Auf den Filmfestspielen von Cannes wurde „LEVIATHAN“ im letzten Frühjahr mit dem Preis für das „Beste Drehbuch“ ausgezeichnet. Beim 72. „Golden Globe Award“ vor ein paar Wochen wurde „LEVIATHAN“ als „Bester fremdsprachiger Film“ ausgezeichnet. Für den „Oscar“ war er ebenfalls als „Bester Auslandsfilm“ nominiert. Diverse weitere internationale Festival-Auszeichnungen (München, London, Indien) belegen, dass wir es hier mit einem „prächtigen Ungeheuer“ von aktuellem Polit-Film zu tun haben, dessen nachhallende Denk-Wirkung spannend wie faszinierend ist. Gerade im aktuellen Blick auf das politische Weltgeschehen und Säbelrasseln. Für diese hitzige globale Diskussion um neue Welt-Regeln. Und Ordnungen.

„Die geistige Macht des Staates über den Einzelnen hat keine Grenzen“, erklärt Andrei Petrowitsch Swjaginzew (im Presseheft). Als ewiges Ausrufungszeichen. Mit viel gleichzeitiger Fragezeichen-Wut von wegen – dauerhafter Sklave oder irgendwann doch freier Mensch? Möglich??? (= 4 ½ PÖNIs).

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