DIE KUNST, SICH DIE SCHUHE ZU BINDEN

DIE KUNST, SICH DIE SCHUHE ZU BINDEN“ von Lena Koppel (Co-B+R; Schweden 2011; Co-B: Trine Piil & Pär Johansson; K: Rozbeh Ganjali, M: Josef Tuulse; 101 Minuten; Start D: 20.09.2012); da können wir uns noch so (öffentlich) „wohlwollend“, „interessiert“, „betroffen“ gebend, die Schwächeren in unserer Gesellschaft kriegen immer noch viel zu viel „Dummes“, „Gemeines“ ab. Die kranken Alten werden in Heimen verwaltet, Behinderte werden, obwohl nicht entmündigt, wie doofe Erwachsene betrachtet. Behandelt. In und mit einer Art „Backe Backe Kuchen-(An-)Sprache“. Oft genug – traurig bis entsetzt – beobachtet, gesehen, erlebt. Spreche da wirklich aus aktueller Erfahrung.

Und genau SO ist es hier auch. Am Anfang. Als Alex auftaucht. „Der“ hat vielleicht eine Macke. Dabei gilt er als völlig „normal“. Alex (Sverrir Gudnason) ist ein glückloser Schauspieler, ein Spinner, Faulpelz, ein unzuverlässiger Tagträumer. Der nichts, absolut gar nichts „auf die Reihe“ kriegt. Demzufolge vom totalen sozialen Absturz bedroht ist. Der Mittdreißiger durchlebt seine Dauervollkrise. Rundum, also auch privat. Seine letzte Chance: Ein Job in einer Einrichtung mit Namen „Paradies“. Was sich als Hohn erweist, denn in dieser „Stätte“ werden Menschen mit geistigen Behinderungen „aufbewahrt“. Mit der üblichen Routine. Sprich – irgendwie beschäftigen, mit immer demselben (Sägewerks-)Zeugs, damit sie „ruhig“ (gestellt) sind. Und bleiben. Natürlich kriegt Alex „diese bornierte Ruhe“ einfach nicht hin. Mit seinem ungehobelten, undisziplinierten Temperament. Bei seiner unkonventionellen Phantasie. Als Schauspieler. Alex bringt sozusagen „Leben“ in die verkrustete Bude. Sorgt plötzlich für „Spaß“. Im alltäglichen Einerlei. „Tut was“ mit Ebbe, Leif, Katarina, Kristina, Filippa und Kjell-Ake. Übt Theater spielen. Rollen einnehmen. Sich dabei, damit austoben. Wohlfühlen. Lust an der Unordnung zu bekommen. Unkontrollierte Aufmerksamkeit zu genießen. Was natürlich auf Argwohn bei der Heimleitung wie auf Misstrauen und Ablehnung bei den Eltern stößt. Die ihre „Kinder“ gerne weiterhin „ruhig und sicher“ untergebracht wissen wollen. Weil man schließlich „nur so“ mit Behinderten umzugehen weiß. Diese also nicht ernst zu nehmen bereit ist, denen keinerlei Selbstbestimmung „zutraut“. Doch der unorthodoxe Alex ist mit seiner „komischen Energie“ nicht auf- wie abzuhalten. Möchte „seine Leute“ sogar zu einer dieser TV-Talent-Shows „bringen“. Was eigentlich total „plemplem“ ist. Eigentlich.

„Hur manga lingon finns det i världen“ beruht auf einer „wahren Begebenheit“. War im Vorjahr d e r Kino-Sommerhit in Schweden (mit über 400.000 Besuchern in diesem 8 Millionen Einwohnerland), besetzte in den ersten drei Spielwochen Platz eins der Leinwand-Charts. So dass Teil zwei derzeit in Folge-Arbeit ist. Und in der Tat – dieser kleine robuste Film geht stark an den Kopf und tief in den Bauch. Wirkt nicht als Mitleidsmasche, sondern als deftiger Spaß mit rustikalem Bitter-Tiefgang. Motto: Abgeschobene, „sichergestellte“ Menschen mit Behinderung wollen leben. Ihr Leben auch selbst „einrichten“. Gestalten. Wollen nicht ständig bevormundet werden. Weil es „so“ für die „Normalen“ bequemer ist. Also rebellieren sie. Auf ihre Weise. Unterstützt von einem „normalen Loser“. Der sie versteht. Mit ihnen „was anzufangen“ weiß. Auf sie einzugehen in der Lage ist. Für sie „bereit“ ist. Und der sie „so“ aus ihrer Lethargie herausholt. Aktiviert. In neue Lebensanteilnahme bringt. Versetzt.

Ein kleiner großer Film. Mit ohne „Fahne“, dafür mit spannendem Seelen-Charme. Von Akteuren voller Lust und Laune. Stichwort – nach einer wahren Begebenheit. Frei nach dem (inzwischen) berühmten schwedischen Behinderten-Theater „Glada Hudik“. Das 1996 vom damaligen Behindertenbetreuer Pär Johansson gegründet wurde. Mittlerweile hat dieses Theater acht Produktionen hervorgebracht. Konnte das erste Stück gerade einmal 400 Interessenten verbuchen, so sahen ihre letzte Produktion „ELVIS“ rund 110.000 Zuschauer. Außerdem wurde das Stück auch am Broadway in New York aufgeführt.

Und auch die deutsche Synchronisation kann sich „adäquat“ hören lassen. Für die Besetzung der deutschen Stimmen von „Kristina“ und „Kjell-Ake“ wurde nicht auf reguläre Schauspieler und Sprecher zurückgegriffen, sondern es wurden beide Rollen mit Mitgliedern des Berliner Behinderten-Theaters „Ramba Zamba“ besetzt: ZORA SCHEMM sowie SEBASTIAN URBANSKI bereichern mit ihrer Spracharbeit den Film ungemein. Marke schelmisch hörenswert.

Ein skandinavischer Hit für das hiesige Arthouse-Kino kündigt sich an: „Die Kunst, sich die Schuhe zu binden“ ist ein selbstironisches, wohltuend cleveres Behinderten-Movie. Zum Viel-Mögen (= 4 PÖNIs).

 

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