„IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS“ von Giulio Ricciarelli (Co-B + R; D 2013; Co-B: Elisabeth Barthel; K: Martin Langer, Roman Osin; M:Niki Reiser, Sebastian Pille; 123 Minuten; Start D: 06.11.2014).
Der erste Spielfilm des am 2. August 1965 in Mailand geborenen und seit Mitte der Achtziger Jahre in Deutschland lebenden Schauspielers, Produzenten und Kurzfilmers GIULIO RICCIARELLI ist einer der wichtigsten, bedeutsamsten in diesem Kino-Jahr! Wie überhaupt. Seit langem. Ist von hoher erzählerischer Intensität und Spannung und erschüttert in der längst fälligen Rekonstruktion deutscher Nachkriegsgeschichte. Auch heute noch oder wieder. Bis ins Drama-Mark.
Man muss sich das einmal vorstellen: Hätte es diesen einen aufrechten Mann im System der Bundesrepublik Deutschland der Endfünfziger Jahre n i c h t gegeben, wären vermutlich „diese Dinge“ noch sehr viel später erst bekannt und endlich aufgearbeitet worden. Thema: Auschwitz. „Im Labyrinth des Schweigens“ setzt 1958 ein. Für die BRD hat Bundeskanzler Konrad Adenauer, CDU, die konservative Losung ausgegeben: Nun lasst mal die Vergangenheit Vergangenheit sein. Nach vorne, in die bessere Zukunft schauen und planen, lautet die selbstbewusste Wirtschaftswunder-Devise. Wiederaufbau, Konsum, Petticoat und musikalisches Schlager-Geplärre wie von Vico Torriani („Siebenmal in der Woche“) beherrschen und verklären 14 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Alltag. Das NAZI-Gestern ist abgehakt. Weggewischt. Und die Jugend „schläft“ noch mit.
Nicht aber der Frankfurter Generalstaatsanwalt FRITZ BAUER (GERT VOSS). Zu seinem Team zählt der junge Staatsanwalt Johann Radmann (ALEXANDER FEHLING). Der mit bisher Verkehrsdelikten beschäftigte Jurist bekommt über einen Journalisten mit „Auschwitz“ in Berührung. Einem Thema, von dem er nichts weiß und mit dem er anfangs auch wenig anzufangen in der Lage ist. Doch im Gegensatz zu seinen gleichaltrigen Karriere-Kollegen oder älteren Desinteressierten beginnt er sich mit dem „Schutzhaftlager“, wie Oberstaatsanwalt Walter Friedberg (ROBERT HUNGER-BÜHLER) in Sachen Auschwitz abwiegelt, zu befassen. „Großzügig“ unterstützt wie geschützt durch seinen obersten Chef, Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Der führt dem idealistischen Naivling Johann deutlich vor Augen, dass der Staatsdienst nach wie vor von Sympathisanten und Vollstreckern der Nationalsozialisten durchdrungen sei. Die so gut wie nichts (mehr) zu befürchten hätten, denn sämtliche Straftaten sind mittlerweile verjährt. Außer Mord. Und hier gilt es anzusetzen.
Die Aufklärungsmaschine beginnt mühsam, aber intensiv zu rollen. Ist nicht mehr aufzuhalten. Johann Radmann kriegt erstmals eine amtliche Liste mit Namen von SS-Schergen in die Hände, die in Auschwitz „Dienst“ leisteten. Einige von denen sind auch jetzt noch im öffentlichen Dienst tätig. Radmann und ein kleines Team von engagierten Mitarbeitern stechen beharrlich und immer tiefer hinein in das braune Wespennest. Gegen viele Widerstände, im eigenen Hause wie auch beim Bundesnachrichtendienst (BND), unter Heranziehung von Zeugen und deren erschütternde Aussagen. Doch die immer schwierigeren, bis an zeitaufwändige und seelische Grenzen gehenden Ermittlungen hinterlassen bei dem jungen Mann, der in der Hauptsache den Nazi-Massenmörder Josef Mengele dingfest machen will, immer mehr Erschütterungen. Narben. Private Konflikte. Doch sein oberster Chef Fritz Bauer ist einer Derjenigen, die ihn vehement begleiten. Unterstützen. Und anhalten, endlich mit für notwendige Aufklärung und juristische Gerechtigkeit zu sorgen.
Der erste Auschwitz-Prozess beginnt am 20. Dezember 1963. Im Frankfurter Rathaus Römer. Im Saal der Stadtverordneten. Der Holocaust wird in der BRD erstmals öffentlich gemacht. „Hinter diesem Tor begann eine Hölle, die für das normale menschliche Gehirn nicht auszudenken ist und die zu schildern die Worte fehlen“, wird der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer am Ende des Prozesses erklären.
In der fiktiven Figur des Johann Radmann vereinen sich die drei damals ermittelnden Staatsanwälte Joachim Kügler, Gerhard Wiese und Georg Friedrich Vogel. Generalstaatsanwalt FRITZ BAUER (16. Juli 1903 – 1. Juli 1968) gab es wirklich. Er, der jüdische Sozialdemokrat, der das KZ überlebte, ist bislang in Deutschland weder massen-bekannt noch entsprechend gewürdigt worden. Einige TV-Berichte in letzter Zeit ersetzen nicht diesen ersten starken Hinweis auf einen großen verdienten Deutschen Bürger. Für den so präsenten 62jährigen Bühnenschauspieler GERT VOSS, zuletzt Ensemblemitglied des am Wiener Burgtheater, Kammerschauspieler und Bewunderer der Bühnenpräsenz der „Rolling Stones“ und von Bruce Springsteen, war es übrigens die letzte Rolle, er starb am 13. Juli 2014 in Wien.
Sein junger Kollege ALEXANDER FEHLING („Goethe“) in der Figur des staunenden, die schlimmen, grausamen Verbrechen einfach nicht fassen und begreifen könnenden Johann Radmann gelingt die intensive Herausforderung, einen engagierten, ruhelosen „Schnüffler“ und Gerechtigkeits-Beamten der späten 50er Jahre überzeugend = glaubhaft und spannend wiederzugeben.
Denn Co-Drehbuch-Autor und Regisseur Giulio Ricciarelli versteht es eindrucksvoll, die damalige bundesdeutsche Polit- und Gesellschaftsepoche in Detail, also in Ausstattung, Denken und Geisteshaltung, emotional unaufgeregt, aber eindringlich näherzubringen. Ohne dicke aufklärerische „trockene“ Ausrufungszeichen, sondern als überzeugenden deutschen Polit-Thriller, der anschließend, nach seiner „normalen“ Kino-Auswertung, unbedingt in das Schul-Kino-Programm aufgenommen werden sollte. Ersetzt viele „theoretische“ Geschichtsstunden und ist dabei richtig-wichtig wie packend-gut unterhaltend (= 4 ½ PÖNIs).