„LE HAVRE“ von Aki Kaurismäki (B+R; Finnl./Fr/D 2010; 93 Minuten; Start D: 08.09.2011); schon die „dicke“ Titel-SCHRIFT fasziniert. Hat was von „Retro“. Damals-Plakaten. Aus den 1960er Jahren. Den Edgar-Wallace-Kino-Zeiten. Wo „besonders deutlich“ die Erwartungen des Publikums „außen-optisch“ gekitzelt wurden. Sprich: „Der Hexer“ & Co. Oder beim „feurigen“ Vorspann für die „Stahlnetz“-Serie im Schwarz-Weiß-TV. Klar. Deutlich. Verständlich. Wie bei einem Film von Aki Kaurismäki. DER es seit 1983 („Schuld und Sühne“) so unvergleichlich versteht, klar, deutlich und verständlich sich „finnische“ Menschen-Geschichten auszudenken. Sie dann so fulminant-simpel aufzuschreiben und schließlich „wie nebenbei“ einzigartig lakonisch zu inszenieren versteht. Nach fünf Jahren Leinwandstille, zuletzt: „Lichter der Vorstadt“ (2006), meldet er sich endlich einmal wieder. Mit einem großen kleinen Wunderwerk. In dem die Gedanken nur so wunderbar human sprudeln. Faszinierend. Überschaubar. Ohne Fallstricke. Oder Tricks. Ohne diese „großaktuelle Unruhe“. Im heutigen Kino. Der „Computer“ hat in den Filmen des 54jährigen Finnen nichts zu suchen. Findet dort keinen Gebrauch. Ein Kaurismäki-Werk ist stets „handgemacht“.
„Le Havre“ bedeutet ein herrliches Durchatmen der ganz besonderen Kino-Art. Auch:
Weil aus der skurrilen Trostlosigkeit seiner innigen politischen Alltagsbilder, siehe „Der Mann ohne Vergangenheit“, „Wolken ziehen vorüber“, „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“, nunmehr „realistische Poesie“ entstanden ist. Aus dem heutigen Alltag. Wie gehabt mit wenigen Worten. Dafür mit stolzen, würdevollen Bewegungen. Regungen. Gesten. Zutiefst melancholisch. Berührend. Fesselnd. Im Milieu „der Unteren“. Das neue Wort dafür bei uns: Prekariat. Bei Aki Kaurismäki besser: Die Individualisten. Unter den Außenseitern. Stinknormale Typen. Überlebens“künstler“. Wie Marcel. Marcel Marx. Typisch Aki: Marcel nach dem von ihm bewunderten französischen Regisseur Marcel Carné und dessen poetischen Realismus („Hafen im Nebel“; „Der Tag bricht an“/1938/39). Marx nach dem deutschen Denker Karl Marx.
Marcel Marx ist Schuhputzer. In jener Hafenstadt im Nordwesten von Frankreich. Am Ärmelkanal gelegen. Unmittelbar an der Mündung der Seine. Marcel Marx hat sicher mal „bessere Tage“ gesehen. Signalisiert sein Auftreten. Seine Körpersprache. Sein Gang. Ein früherer Autor. Und wohlbekannter Bohemien. (ANDRÉ WILMS spielt ihn wie seine gleichnamige Figur aus Kaurismäkis „Das Leben der Boheme“/1992). Im Exil. Der Traum vom literarischen Durchbruch ist geträumt. Begraben. Obwohl „die Geschäfte“ nicht sonderlich einträglich sind, zeigt sich Marcel Marx aufrecht. Lebt ein zufriedenes Leben mit seiner Frau Arletty. („Arletty“, so hieß doch diese „Garance“-Darstellerin im Marcel Carné-Klassiker „Die Kinder des Olymp“, wegen der wir bei so vielen Sonntagvormittag-Matinee-Veranstaltungen verzaubert waren). Doch dann kommt es lebens-knüppeldick. Arletty erkrankt. Schwer. Zugleich „entdeckt“ Marcel am Wasser einen minderjährigen schwarzen Flüchtling aus Afrika. Idrissa. Der „illegal“ auf dem Weg zu seiner Mutter nach London ist. Keine Frage, resignieren gibt es nicht. Auch nicht im Quartier von Marcel. Solidarität ist angesagt. Menschliche Hilfe. Mithilfe. Die meisten machen mit. Marcel ist fortan „kreditfähig“. Um den Jungen auf ein Schiff zu bringen, dass ihn über den Kanal fährt. Zu seiner Mutter. Bevor ihn die Polizei erwischt. Monet (!), der hartnäckige wie auch ziemlich ermattete Schnüffler, ist ihnen bereits – mit vehementem Amtsauftrag – auf den Fersen. Deshalb „packen“ alle mit-an. Sogar ein depressiver Alt-Rock ‚n’ Roller. Little Bob.
Keine Handys. Es wird viel geraucht. Und nicht wenig getrunken. Und kaum gesprochen. Dafür erklingen emotionale Tonträger. Reichlich. Schöne. Passende. In diesem feinen Märchen ums Gut-Sein. Auf dem Hinterhof des Lebens. Mit diesem unaufdringlichen Signal: Der Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch. Kann es sein. Darf es sein. Ungeniert. In jedem Moment deines Lebens kannst DU, könntest Du etwas Gutes tun. Völlig unaufgeregt. Selbstverständlich. Deshalb „sind wir da“. Eigentlich. Vernünftig miteinander umzugehen. Zu helfen, wo es erforderlich ist. Notwendig. Ohne viel Lärm. Oder großem Geschrei. Die Hand ausstrecken. Mensch. Marcel Marx ist beharrlich. Schlägt kauzige Umwege ein. Um seine helfende Absicht unbedingt durchzukriegen. Bleibt er. Standhaft. Und wird schließlich wundersam belohnt.
Aki Kaurismäki, der Altersweise. Der kluge Rebell. Der beharrliche Poet. Der standhafte Beobachter: „Das Europäische Kino hat sich bisher nicht sonderlich mit der sich ständig verschlimmernden finanziellen, politischen und nicht zuletzt moralischen Krise beschäftigt. Die Krise st auch die Ursache für die weiterhin ungelöste Flüchtlingsfrage. Immer mehr Menschen suchen verzweifelt nach einem Weg in die Europäische Union und werden dann, einmal angekommen, fragwürdiger Behandlungen und menschenunwürdigen Lebensumständen ausgesetzt.
Auch wenn ich selber keine Lösung habe, möchte ich mich trotzdem mit diesem, wenn auch unrealistischen Film, dem Problem widmen“ (Aki Kaurismäki/aus dem Presseheft).
Das Ensemble ist einmal mehr auf den kargen Maestro eingestimmt. Ist wunderbar kaurismäkisch: Lakonisch, spröde, charismatisch. „Speziell“. Der besondere Charme-Kosmos des Aki Kaurismäki. Inmitten seiner atmosphärischen Ironie. ANDRÉ WILMS & KATI OUTINEN, Kaurismäkis Dauer-Muse, JEAN-PIERRE DARROUSSIN & BLONDIN MIGUEL, der Beamte auf Sinn-Suche & der junge Heimatlose, und sogar Truffauts filmischer Adoptivsohn JEAN-PIERRE LEAUD als erwachsene Missgeburt und Denunziant aus der Nachbarschaft bilden ein farbiges Stimmungsteam. Mit all den Anderen.
„Le Havre“ als Hymne auf die befriedigende Langsamkeit. „Gute“ Normalität. Auf die Möglichkeit/Machbarkeit von Nächstenliebe. Als einfache Handhabung. Auf die Toleranz. Für ein humanes Sein. Alles ist möglich. Du musst es nur wünschen. Wollen. Machen.
Als „Le Havre“ bei den Filmfestspielen von Cannes im Frühjahr im Wettbewerb lief (und dann den “FIPRESCI-Preis“ der Internationalen Kritikervereinigung erhielt), wurde Aki Kaurismäki bei der Präsentation gefragt, warum der Film nicht in seiner Heimat spielt, sondern in Frankreich. Antwort: „Niemand ist so verzweifelt, dass er nach Finnland kommen will“ (aus SPIEGEL 36/2011 / Kritik von Martin Wolf). Genau SO „lächelnd“ kommt „Le Havre“ ´rüber (= 5 PÖNIs).