GROSSE ERWARTUNGEN

GROSSE ERWARTUNGEN” von Mike Newell (GB 2011/2012; B: David Nichols, nach dem gleichn. Roman von Charles Dickens; 128 Minuten; Start D: 13.12.2012); zum Jahresausklang 2012, dem Charles Dickens-Jahr, anlässlich seines 200. Geburtstages, kommt die sechste Leinwand-Adaption des berühmten Stoffes von ihm ins Kino. „Great Expectations“ wurde zuerst in der britischen Zeitschrift „All the Year Round“ im Zeitraum vom 1. Dezember 1860 bis August 1861 veröffentlicht. Von den vorherigen Kinofilmen sind die David Lean-Version von 1946 („Geheimnisvolle Erbschaft“/“Oscars“ für die „Beste Kamera“ und für das „Beste Szenenbild“ bei insgesamt 5 Nominierungen, darunter für den „Besten Film“ und die „Beste Regie“) sowie die in einem kleinen Fischerdorf in Florida angesiedelte modernisierte Verfilmung von 1998 („Große Erwartungen“; Regie: Alfonso Cuarón; mit Ethan Hawke, Gwyneth Paltrow) die bekanntesten. 2011 ist im Übrigen eine Neuauflage des Romans in deutscher Sprache erschienen, bei der auch das ursprünglich von Dickens beabsichtige „Nicht Happy Ende“ als Anhang hinzugefügt ist.

Das ewige Charles Dickens-Thema: Der unanständige, korrupte Macht-Mensch. Vermag er „oben“ in der gesellschaftlichen Rangordnung dabei zu sein, mitmachen zu dürfen, lässt er dies genüsslich, sprich fies, arrogant, DIE spüren, die „unten“ angesiedelt ist. Damals „Pöbel“ bezeichnet, heute süffisanter, aber nicht weniger „tief“ Prekariat. Der Waisenjunge Phillip Pirrip, genannt „Pip“, lebt bei seiner älteren, rüden, „unangenehmen“ Schwester und ihrem Mann, Dorfschmied Joe Gargery. Man lebt in diesem öden, nebligen Marschland in bescheidenen Verhältnissen. Als Pip eines Tages nach dem Grab seiner Mutter schaut, trifft er auf den geflohenen Zuchthäusler Magwitch (RALPH FIENNES). Der ihn quasi zwingt, Nahrung und eine Feile zu besorgen. Ein Jahr darauf beginnt „ein Umbruch“ im Dasein des Jungen.

Die zurückgezogen lebende, reiche wie exzentrische Miss Havisham (HELENA BONHAM CARTER) engagiert ihn als Spielgefährten für ihre hochmütige, stolze Pflegetochter Estella. In die sich der Junge sofort und dann auch „für immer“ verliebt. Irgendwann ist aber Schluss mit diesem „Traum“-Job, und Pip kommt bei seinem Schwager in die Schmiede-Lehre. Doch bald danach beginnen sich „die Dinge“ für ihn völlig zu verkehren: Pip erhält die überraschende wie verblüffende Nachricht, dass ihm ein Wohltäter ein beträchtliches Vermögen vermacht hat. Bedingung: Er muss nach London ziehen und aus sich einen „Gentleman“ „machen“. Lassen. Soll dort seinen nunmehr „neuen Stand“ lernen wie annehmen. Das Stück „Geld / Kleider machen Leute“ kann endgültig beginnen. Mit allen Irrungen und Wirrungen, die ein Charles Dickens be-dacht hat. Dabei kommen einmal mehr seine immensen sozialen wie umgangsmäßig unterschiedlichen Betrachtungen süffisant zum Vorschein: Geradezu hässlich diese Adlaten, diese neidvollen Gierigen, die Speichellecker, die Opportunisten, die „dem reichen Jungen“ begegnen. Umgeben. Während die jetzt „Seinesgleichen“ mit vornehmem Spott und „gepflegter“ Häme auf ihn reagieren. Ihn, Pip, der sich jetzt „anders“ fühlt und sich anpassen will. Einige wenige Freunde finden. In seiner Nähe wird der Anwalt Mr. Jaggers (ROBBIE COLTRANE) immer mehr zu einem Berater. Heute „Coach“. Über DEN jetzt nicht nur die Geldzuweisungen, sondern auch die marionettenhaften Fäden dieses ausgeklügelten Figuren- und Situationsspiels laufen. DIE sich mehr und mehr irritierend aus-/verbreiten. Und an denen ALLE „hängen“. Beteiligt sind. Oder beteiligt werden.

Mike Newell, mein Lieblingsfilm von ihm ist und bleibt „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ (1994), inszeniert gepflegt. Detailgetreu, wenn es um die Architektur, „den Boden“ des damaligen London geht. Kostüme, Design (von JIM CLAY), das kalte Licht, diese auf den Sicht-Punkt gebrachten präzise wie herben wie doppelbödigen viktorianischen Motive (Kamera: JOHN MATHIESON), die vielen kuschenden Gestalten auf den dreckigen Straßen oder in den Stuben – der atmosphärische Atem eines „köstlichen“ Charles Dickens ist überall prickelnd zu spüren. Besonders natürlich bei den „Exzentrikern“, den wahren Drahtziehern, den Entscheidern über Lebensglück oder Lebensunglück. Der Mensch, eigentlich geboren, um „zu leben“, ist gezwungen, viele Manipulationen auszuhalten, dumme Umwege machen zu müssen und dabei viel zu viele gute Lebenszeit zu vergeuden, bis endgültig feststeht, was und wie „er“ wirklich sein soll: Der kurze Aufenthalt des Existierens. Auf der Erde von 1812 (Dickens Geburtsjahr) bis 1840.

Leider verzettelt sich Newell dabei nach Zweidrittel des Geschehens. Konzentriert sich mehr auf die „Krabbeleien“ dieses Pip, verweist mehr auf dessen abenteuerliche Winkelzüge als sich weiterhin mit der viel spannenderen kritischen „Sozialromantik“ jener Zeit(en) zu befassen. Was viel wirkungsvoller wäre. Und bedeutsamer. So verwässert das dann hier zu einem zu schnellen, zu verwirrenden Auflösungsgeschehen. Wirkt zu geschwätzig. Und wird „nur“ von dem hervorragendem Ensemble am emotionalen Neugierlicht er- und gehalten. JEREMY IRVINE, 21, aus dem Steven Spielberg-Meisterwerk „Gefährten“ als „der Junge mit dem Pferd“ bekannt, stolziert hier naiv-solide, also ohne Nachhall, durch sein gelenktes Schicksal. Besitzt mit Helena Bonham Carter als verhuschte „Rache-Lady“ sowie mit Ralph Fiennes und „Fitz“ Robbie Coltrane (der überragende TV-Serien-Psychiater aus „Für alle Fälle Fitz“) „kompetente“ Stichwortgeber. Während ihn „seine“ Estella alias HOLLIDAY GRAINGER (die Lucrezia Borgia in der seit 2011 laufenden TV-Serie „Borgias – Sex Macht. Mord. Amen.“) hübsch, aber auch ein wenig „matt“ begleitet.

Dieses neuerliche Dickens-Movie gehört in die Kategorie ja, ganz angenehm, aber kein großen KINO-Wurf. Stattdessen ist der Film später, für das niveauvolle Heimkino, vortrefflich „wärmend“ geeignet (= 3 PÖNIs).

 

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