GELOBT SEI GOTT

PÖNIs: (4,5/5)

„GELOBT SEI GOTT“ von Francois Ozon (B + R; Fr/Belgien 2018; K: Manuel Dacosse; M: Evgueni Galperine; Sacha Galperine; 137 Minuten; deutscher Kino-Start: 26.09.2019); auch drei Jahrzehnte „danach“ ist der Schock, die Wut und das Trauma vorhanden – bei Alexandre Guérin (MELVIL POUPAUD). Seines Zeichens Familienvater, fünf Kinder, gut situiert. Als er denjenigen sieht und dann begegnet, der ihn einst im Pfadfinderlager sexuell missbraucht hat, vermag er nicht mehr zu schweigen. Beginnt „darüber“ erst intern zu sprechen, bevor er das auslöst, was man als eine Welle der schmerzhaften Aufklärung bezeichnen darf. Was allerdings der betroffene Beschuldigte, der katholische Priester Bernard Preynat (BERNARD VERLEY), ganz anders und vor allem voller Selbstmitleid sieht: „ICH musste damit umgehen“ und: „Es ist eine Krankheit“. Pädophil veranlagt zu sein. Während sein Vorgesetzter in Lyon, Kardinal Philippe Barbarin (FRANCOIS MARTHOURET), während einer Pressekonferenz tatsächlich diesen Satz sagt: „Die Mehrheit der Fälle ist Gott sei Dank verjährt“.

„Grâce à Dieu“, also „Gott sei Dank“, heißt der Film, der im Frühjahr im Berlinale-Wettbewerb lief und dort mit dem „Großen Preis der Jury“ bedacht wurde. Geschaffen hat ihn, unter widrigen Umständen, der französische Autoren-Regisseur FRANCOIS OZON, der mit seinen Werken wie „8 Frauen“, „Swimming Pool“ oder „Das Schmuckstück“ (s. Kino-KRITIK) oder „Frantz“ (s. Kino-KRITIK) und zuletzt „Der andere Liebhaber“ auch hierzulande eine große Anhängerschar erreicht. Befasste sich der 51-jährige bislang vor allem mit femininen Charakterstudien und dem offenen Umgang mit Sexualität, so ist Ozon hier hochpolitisch. Und unbarmherzig kritisch. Also dem Empörungs- und Skandal-Thema angemessen. Das fiktional erzählt wird, aber auf authentischen Fakten aus dem französischen Lyon basiert und bis heute die weltliche wie kirchliche Aufklärung beschäftigt. Ausgangspunkt: Als Alexandre Guérin den Peiniger von einst heute in der Gemeinde entdeckt und feststellen muss, dass dieser immer noch und völlig unbehelligt mit Kindern arbeitet. Zusammenarbeiten darf.

Die Kirche als Institution. Als feste gesellschaftliche Bastion. Seit ewigen Zeiten als Moral-Fundament existierend. Wie aber auch als Macht-Instrument allgegenwärtig. Ohne Fehl und Tadel. Dachte man lange Zeit. Doch dann begannen die Vorwürfe. Und Aufarbeitungen. Erst vereinzelt, dann immer umfangreicher. Am Ende der vorläufigen Belastungskette sind Ansehen und Anstand, Vorreiterrolle in Sachen Moral und Lebensinhalt sowie Vorbildfunktion erschüttert. Immens erschüttert. Lösen gesellschaftlich Erdbeben aus. Und wie geht die plötzlich attackierte Institution „katholische Kirche“ damit um? Ist sie kooperativ? Oder will sie doch lieber den Mantel des Schweigens „über das längst Vergangene“ stülpen?

Francois Ozon arbeitet dies in Form eines spannenden, wütenden Gesellschafts-Thrillers auf. Der in seiner Bedeutung natürlich weit über Frankreich hinausgeht. Gibt es inzwischen einen katholischen Weltfleck, der nicht von diesen fürchterlichen Missbrauchsvorwürfen betroffen ist? Ozon beschreibt, charakterisiert die erwachsenen Opfer, erzählt von deren schlimmen seelischen Wunden, die nie richtig verheilt sind. Und sich jetzt erneut auftun. Anfangs glaubt Alexandre, der gläubige Christ, dies mit vernünftigen Gesprächen und vielem Kommunikationsaustausch zwischen ihm und „Funktionären“ und Mächtigen der Kirche „so“ handhaben zu können. Im Unauffälligen. Als Einzelfall. Erst als der Zorn darüber überhandnimmt, dass die Kirche keineswegs geneigt ist, den pädophilen Priester intern anzuprangern und vor allem zu entlassen, stellt er als Einzelner eine öffentliche Strafanzeige („Ich habe menschliche Werte, die katholischen sind mir zu scheinheilig“). Bei der Polizei. Was weitere Opfer aufhorchen und sich schließlich beteiligen lässt. Der Verein „La Parole Libérée“ („Das befreite Wort“) wird gegründet. In der Öffentlichkeit rumort es. Diskret formuliert.

Francois Ozon und Team beschreiben – und dies macht so verrückt – Tatsachen. Alle relevanten Aussagen sind belegbar. Akribisch recherchiert. Vor allem diese unfassbaren „Verdrängungen“ und listigen Winkelzüge, mit denen die katholische Kirche auftritt. Argumentiert. Ihre Schlüsse zieht, besser: NICHT zieht. Dabei hat die Wirklichkeit – Gott sei Dank – inzwischen seinen starken Film überholt. Die Frist für Verjährung sexueller Gewalt an Minderjährigen wurde von 20 auf 30 Jahre „nach Volljährigkeit“ korrigiert. Außerdem entließ ein Kirchengericht Priester Preynat wegen sexuellen Missbrauchs aus dem Klerikerstand. Zudem muss er sich demnächst strafrechtlich vor einem Gericht verantworten. Sein Vorgesetzter, Kardinal Barbarin, wurde wegen Vertuschung von Missbrauchsvorwürfen von einem Gericht in erster Instanz am 7. März 2019 zu 6 Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Sein einflussreiches Amt als Erzbischof von Lyon lässt er ruhen. Er ging in Berufung und gilt weiterhin als unschuldig. Papst Franziskus hat einen Rücktritt abgelehnt von wegen: Unschuldsvermutung.

„Papa, glaubst du noch an Gott?“, fragt am Ende der Sohn seinen Vater.

„GELOBT SEI GOTT“ oder: ein ganz anderer Horror-Film. Selten war die WIRKUNG KINO so realitätsnah, aufwühlend, bedeutsam (= 4 1/2 PÖNIs).

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