EXPERIMENT

Dass sich ein amerikanischer Spielfilm einen deutschen als REMAKE zum Vorbild nimmt, kommt auch nicht alle Tage vor. In unserem Neu-Falle aber ist dies so. Und: Diese amerikanische Produktion ist bei uns nicht erst ins Kino gelangt, sondern hatte neulich gleich deutsche Premiere per DVD. Mit dem originalen Titel

THE EXPERIMENT“ von Paul Scheuring (B+R; USA 2010; 91 Minuten; DVD-Start: 2.12.2010); basierend auf dem Roman „Black Box“ des deutschen Schriftstellers Mario Giordano aus dem Jahr 1999 und dem deutschen Film „Das Experiment“ von Oliver Hirschbiegel aus dem Jahr 2001, geschrieben von Christoph Darmstädt, Don Bohlinger und Mario Giordano.

Im Vorspann wird bereits das Thema signalisiert. Wir blicken auf Tiere im Duell Fressen und Gefressen-Werden. Auf viele, schnell geschnittene gegenseitige Attacken. Dann folgen dieselben Aggressionen zwischen Menschen. Bei Demonstrationen, zwischen Polizei + Wutbürger, bei gegenseitigen Prügeleien/Schlägereien, beim „genüsslichen“ Eindreschen auf Gejagte, Am-Boden-Liegende, eindeutige Bereits-Opfer. Dann geht´s los.
Wir aber müssen zunächst die Herkunftsfakten annoncieren: Das STANFORD-PRISON-EXPERIMENT. Wurde 1971 vom amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo an der Stanford Universität durchgeführt. Das war ein psychologischer Versuch, bei dem menschliches Verhalten unter den Bedingungen der Gefangenschaft zwei Wochen im Gefängnis erforscht werden sollte. Aufgrund diagnostischer Interviews und einem Persönlichkeitstest wurden 24 Studenten aus der Mittelschicht – für 15 Dollar pro Tag – ausgewählt. Durch Münzwurf wurden sie in zwei Gruppen eingeteilt: Wärter und Gefangene. Die „Gefangenen“ mussten im Vorfeld Dokumente unterschreiben, auf dass sie freiwillig für die Zeit im „Gefängnis“ auf einige ihrer Grundrechte verzichteten. Das Experiment geriet bald schon außer Kontrolle und wurde nach nur 6 Tagen, am 20. August 1971, wegen „auffälliger Aggressionen“ abgebrochen.

1999 beschrieb der am 30. Mai 1963 in München geborene und in Köln lebende („Tatort“-)Autor und Schriftsteller Mario Giordano diese Geschichte in seinem Roman „Black Box“. Zwei Jahre später folgte der deutsche Kinospielfilm von Oliver Hirschbiegel mit Moritz Bleibtreu in der Hauptrolle als „Nr.77“ und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 4 x den „Deutschen Filmpreis“ (Hauptdarsteller/Nebendarsteller/Szenenbild/Publikumspreis).
Für den polnischen Pavillon der Biennale in Venedig wiederholte der polnische Künstler Artur Zmijewski das Experiment 2005 in Warschau und dokumentierte es filmisch unter dem Titel „Repetition“. Im August 2010 kam der Film in den USA heraus, der bei uns nun „per Scheibe“ zu sehen ist. Für 2011 ist ein weiteres US-Remake unter der Regie von Christopher McQuarrie und mit dem Titel „The Stanford Prison Experiment“ geplant. In den Rollen u.a.: Channing Tatum, Ryan Phillippe + Benjamin McKenzie.

Sein Name: Travis (ADRIEN BRODY). Ein mitteljunger Bursche. Hat als Pfleger im Altenheim gearbeitet. Wurde wegen Budget-Kürzungen entlassen. Stößt auf eine Zeitungsannonce. In der werden Testpersonen für ein zweiwöchiges „Verhaltensexperiment“ gesucht. „Keine Vorkenntnisse nötig“, für 1.000 Dollar pro Tag. Travis lernt „beim Casting“ Anzugträger Barris kennen. Einen stets freundlich lächelnden Schwarzen (FOREST WHITAKER). „Wir sind Fremde in einem fremden Land, Bruder“, raunzt er Travis an. Beide werden genommen. Es geht darum, die Lebensumstände in einem staatlichen Gefängnis zu simulieren. In Tests. „Einige von Ihnen werden keine Bürgerrechte haben; unterschätzen Sie das nicht“, gibt Ihnen der ärztliche „Veranstalter“ mit auf den Weg. Aber auch: „Ihre Sicherheit hat für uns höchste Priorität“. Sowie: „Es gibt praktisch keine Außenwelt“. Und schließlich: „Gerechtigkeit ist DAS, was uns als Gesellschaft Sicherheit gibt“. Wobei er damit auch die „ungerechte Gerechtigkeit“ mit-einbezieht.

Der Psycho-Krieg beginnt. Mit Travis als Gefangenem Nr.077 und Barris als Wärter. Als Chef-Wärter. Der sich plötzlich als uniformierter Aufseher „wandelt“. Vom Mitmenschen zum Bestimmer. Zum „mächtigen“ Ordnungshüter. Zum Gesetzespatron. Zum Herrscher über Recht und Mensch. Zum Administrator und schließlich „Vollstrecker“. ZUM FÜHRER. „Muttersöhnchen Schwach“ hat plötzlich Macht “ bekommen“ und nutzt dies weidlich aus. Was bei den meisten seiner „Kollegen“ prächtig ankommt. Entpuppen auch sie sich nun gerne wie genüsslich als „motivierte Sadisten“. Die nun mit aller (Psycho-)Härte und dann Gewalt gegen DIE GEGNER vorgehen. Kein Erbarmen kennen, erkennen lassen. Als ein zuckerkranker Gefangener kollabiert, kommt es zum Eklat. Und zu veränderten Positionen. In diesem längst aus den experimentellen Fugen geratenen Knast. Wo nun „offene Regeln“ herrschen. Und sich „die Positionen“ verändern. Grausamkeiten total. Und endlich blinkt die rote Lampe…, aus. Oder?

Dieser Film geht ans Eingemachte. Gehirn wie Bauch. Lässt sich vielschichtig betrachten. Interpretieren. Etwa: Gebe Menschen nur eine Aufgabe, einen formellen, also quasi „amtlichen“ Obrigkeits-Auftrag, stecke sie in eine beliebige Uniform, und sie verlieren jede Moral. Jeden Anstand. Jede Kontrolle. Werden zu „Autoritäten“. Genüsslichen Idioten. Sadisten. Ekelbrüdern. Die gerne ANGST verbreiten. „Oben-Unten“ spielen. Ausüben. Sich JETZT wichtig vorkommen. Respekt vor „dem Amt“ und „der Uniform“ verlangen. Beanspruchen. Ohne Widerspruch. Der Faschismus und seine widerlichen Schergen. „Richte dich ein und überlebe“, meint ein Zellengenosse von Travis. Und wartet nur die verlockende Kohle. Die bald winkt. Doch Travis kann und will sich DAS HIER nicht länger gefallen lassen. Die völlig unzivilisierten Demütigungen. Die entwürdigende, unmenschliche Dauer-Behandlung. Begehrt auf. Und gefährdet somit „als Rädelsführer“ das System. DAS nun seine wahre Fratze zeigt. Austobt. Obwohl sich mittlerweile auch in den eigenen Reihen Widerspruch meldet. Was „Boss“ Barris nicht mehr ignorieren kann. Aber DER FÜHRER hat Blut geleckt. Will seinen Auftrag strikt ausführen. Zu Ende bringen.

Ein packender, spannender, gedanklich aufwühlender Menschen-Thriller. Mit viel Gedanken-Gut. Und natürlich diesen Fragen, was passiert, wenn…man Menschen…losläßt. Das Ensemble ist exzellent zusammengesetzt, aber zwei „Oscar“-Preisträger führen den Film absolut beeindruckend in wütendem Gegeneinander: ADRIEN BRODY (37) und FOREST WHITAKER (49). Brody, 1973 in Queens/New York City geboren, bekam 2003 den Hauptdarsteller-„Oscar“ für seine Darstellung des polnischen Juden Wladyslaw Szpilman in „Der Pianist“ von Roman Polanski und war damit der jüngste Schauspieler, der in dieser Kategorie jemals den Preis bekam. Zugleich ist er der einzige Schauspieler, der zugleich auch den französischen „Oscar“, den „Cesar“, zugesprochen bekam. Als Travis ist er das erst fassungslose, dann ausrastende „gute Gewissen“. Ungemein diffizil, eindringlich, nahegehend.

Der 1961 in Texas geborene Forest Whitaker, ein 1,89 Meter große Vegetarier, hat ja bereits „Erfahrungen“ mit üblen Uniform-Gestalten; schließlich bekam er 2007 für die Rolle des ugandischen Diktators Idi Amin in Kevin Macdonalds Spielfilmdebüt „Der letzte König von Schottland – In den Fängen der Macht“ ebenfalls den Hauptdarsteller-Oscar“ sowie vorher auch den „Golden Globe“. Hier, als zunächst nobler, sympathischer Gruppen-Bursche, der dann seinen Dämon ´auslässt und zum widerlichen Peiniger mutiert, der sich an/mit seinem (Kurz-)Job gierig befriedigt, trifft Whitaker genau diesen Obrigkeits-„Charme“-Ton zwischen Normal-Bürger und Herrschafts-Wahnsinnigen. Ist DIE Bedrohung-pur. Vor solchen „Anzug-Irren“ sollte man auf der Hut sein. Signalisiert dieses vorzügliche Psycho-Action-Drama. In dem besagter Ex-Zellengenosse von Travis DEM die letzte resignierende Frage stellt: „Glaubst du immer noch, wir stehen auf der Evolutionsleiter höher als Schimpansen?“ „Ja“, meint Travis, „weil wir immer noch alles verändern können.“
Schön wär´s ja (= 4 PÖNIs).

Anbieter: „Highlight Communications + Constantin Film“.

 

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