ELLE

PÖNIs: (4,5/5)

„ELLE“ von Paul Verhoeven (Fr/D/Belgien 2015; B: David Birke; nach dem Roman „Oh…“ von Philippe Djian/2012; K: Stéphane Fontaine; M: Anne Dudley; 126 Minuten; deutscher Kino-Start: 16.02.2017); nach dem letzten Kinospielfilm-Desaster mit „Black Book“ von 2007 (s. Kino-KRITIK) galt er eigentlich als abgeschrieben: der heute 78-jährige Niederländer PAUL VERHOEVEN. Der einst mit einer Arbeit über Einsteins Relativitätstheorie promovierte, dessen Filme oftmals außerhalb von Normen dachten und handelten und der als erotischer Provokant viel Aufsehen erregte, mit Werken wie „Türkische Früchte“ (1973/“Oscar“-Nominierung; s. Kino-KRITIK), „Basic Instinct“ (1992) oder „Showgirls“ (1995/“Goldene Himbeere“, der Anti-„Oscar“, den er sogar persönlich in Empfang nahm). Heuer ist er Jury-Präsident der 67. Berlinale.

Und mit seinem neuen Film „Elle“ erneut im provokanten Gespräch. Denn auch sein aktueller Kinofilm, ein Drama-Thriller, ist längst noch nicht am Ende, wenn er vorüber ist. Motto: Diskussionen und Streit ohne Einigung danach.

Michèle (ISABELLE HUPPERT). Eine taffe Frau. Kalt wie zynisch. Geschäftlich wie privat. Cool bis zum Oberanschlag, unnahbar wirkend, beängstigend souverän. Michèle, die erfolgreiche Chefin eines Unternehmens, das aggressive Videospiele entwickelt, in denen Gewalt gegen Comic-Frauen „genüsslich“ vorkommt. Die eine Affäre mit dem Ehemann ihrer besten Freundin („unser“ CHRISTIAN BERKEL) genießt; ihre Mutter zurechtweist ob ihrer Obsession für jüngere Kerle und die ihrem etwas schlichten Sohn seine Bitch-Freundin „ausreden“ will. Überall den Überblick, die Oberhand und überhaupt die Kontrolle über ihr Leben behalten möchte und sich dabei mit einer geradezu satanischen Sachlichkeit selbst zu beobachten versteht: Diese Frau ist hochinteressant unmöglich. Als sie eines abgearbeiteten Tages in ihr Vorort-Haus kommt, wird sie überfallen und vergewaltigt. Von einem Mann mit Maske. Sie ruft „danach“ nicht die Polizei, räumt die Scherben vom Fußboden auf, begibt sich in die Badewanne. Die Freunde, denen sie „darüber“ bei einem Restaurant-Dinner berichtet, sind außer sich. Aber auch, weil sie sich weigert, etwas „zu unternehmen“. Ganz im Gegenteil: Michèle will auch jetzt bestimmen, wie es weitergeht, akzeptiert sich nicht als Opfer und beschließt, den Täter allein zu überführen.

Die Zwischen-Motive. Der Erinnerung. Sie als 10-Jährige. Gedemütigt als „kleine Psychopathin“ in der Öffentlichkeit, weil ihr Vater die Kinder in der Nachbarschaft umbrachte. Und seitdem im Gefängnis sitzt. „Das Kind eines Serienmörders“ zu sein, setzt ihr bis heute zu. Aber ist das ein Motiv dafür, dass sie quasi eine Vergewaltigung „akzeptiert“? Aus ihrer Macht-Sicht: ja. Ohne Bedenken. Bedeutet: Ihre totale Abwesenheit von Emotion und Betroffenheit, empfindet sie als Stärke.

Politisch und moralisch völlig unkorrekt. Eine Vergewaltigung ist ekelhaft. Zu verurteilen. Verbrecherisch. Sicherlich: Einigkeit. Aber: Paul Verhoeven betritt andere, psychologische wie provozierende Wege. Seine Michèle bemüht sich auf süffisante Weise und aus egoistischer Lust heraus, dieses Herrschaftsspiel der Geschlechter auf ihre eigene „praktische“ Weise zu führen. Bis sie endlich „Gewinnerin“ ist? Fragezeichen? Der Film, der auf dem 2012 erschienenen Roman „Oh…“ des französischen Schriftstellers Philippe Djian basiert (der einst auch die literarische Grundlage für den französischen Kino-Hit „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ von Jean-Jacques Beineix schuf), versteht sich deutlich als Fiktion und verweigert sich einer moralischen Deutung. „Sie ist niemand, die man schon einmal getroffen oder kennengelernt hätte. Sie ist komplett erfunden. […] Sie will die Kontrolle darüber haben, was ihr widerfahren ist. […] Sie wird nicht die typische Rachefigur und sie greift nicht auf konventionelle männliche Waffen und männliche Reaktionsmuster zurück, um ihre Rache zu vollführen. Sie vollzieht eine Rache“ (Isabelle Huppert im „ray“-Filmmagazin-Interview/Ausgabe 02/17).

Und dann gibt es ja da noch diese „pikante“, geradezu sensationelle Schluss-Pointe.

Apropos: ISABELLE HUPPERT, diese fulminante „Meryl Streep Frankreichs“, bietet als Mädchen-Furie „Michèle“ eine sagenhafte „empörende“ Performance von Charakter-Kraft, Biest-Präzision, mit rabiat-großartigem Charisma: Faszination zuhauf. Ihr hier zu folgen, ist ein Erlebnis. Kürzlich hat sie für ihre Michèle den „Golden Globe“ eingeheimst, nun winkt – verdient – der „Oscar“.

„ELLE“ (= „SIE“), der neue Film von Paul Verhoeven, ist eine spannende Kino-Begegnung und außerordentliche Film-Erfahrung (= 4 ½ PÖNIs).

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