Ein gutes Herz

EIN GUTES HERZ“ von Dagur Kári (B+R; Dänemark/Island/USA/Fr/D 2009; 99 Minuten; Start D: 25.11.2010); DARAUF habe ich gewartet, auf das nächste „Sleeper-Movie“, auf d e n neuen Film, der uns in den Startlisten zunächst gar nicht „entgegenspringt“, uns gar nichts sagt, von dem man vorab „nichts erwartet“, weil weder Titel noch Beteiligte „groß schreien“ bzw. weitläufig bekannt sind. Im Vorjahr waren DAS solche Entdeckungen wie der belgische Feelgood-Streifen „Eldorado“ oder der enorme Außenseiter-Stoß „Spiel der Träume“, eine Co-Produktion Sri Lanka/D. Und neulich besaß die deutsch-griechische Co-Produktion „KLEINE WUNDER IN ATHEN“ von Filippos Tsitos „diese“ wunderbaren Sonderlings-Qualitäten und erinnerte nicht zufällig an die Kultstoffe eines Jim Jarmusch und von Aki Kaurismäki.
Und Jarmusch/Kaurismäki haben gewiss auch mit ihren lakonischen Off-Meisterwerken wie „Stranger Than Paradise“ oder „Das Leben der Bohéme“ hier Pate gestanden.

Aber wer, bitte, ist ihr „Bruder“ DAGUR KÁRI???: Dagur Kari Pétursson, kurz Dagur Kári, wurde am 12. Dezember 1973 im südfranzösischen Aix-en-Provence als Sohn isländischer Eltern geboren. Als er 3 war, zog die Familie nach Island zurück. Von 1995 bis 1999 studierte er an der Dänischen Filmschule in Kopenhagen. Sein erster Langfilm, eine isländische Produktion, hieß 2003 „Nói Albínói“ („Noah, der Albino“) und reiste viel bestaunt durch die Arthouse-Kinos um die Welt. Sein zweiter Spielfilm entstand 2005 in Dänemark, „Dark Horse“, und hatte bereits seine Uraufführung beim Cannes-Festival innerhalb der „Forum“-Reihe „Un Certain Régard“. Kári ist als Auch-Musiker seit 1994 Teil des Duos „Slowblow“, das auch für die Musik in seinen Filmen (also auch hier) verantwortlich ist.

„The Good Heart“ oder – die besten Filmgeschichten passen auf einen Bierdeckel. Allerdings – in der schön-schäbigen Kaschemme, der New Yorker „Oyster Bar“, sind Bierdeckel vordergründig nicht angesagt. Also bemühen wir einen anderen „intellektuellen“ Vergleich: Eine australische Langzeitstudie hat im Jahr 2005, sinngemäß zusammengefasst, ergeben, dass FREUNDE WICHTIGER SIND ALS FAMILIE. Zehn Jahre werteten Wissenschaftler entsprechende Daten aus und kamen zum Ergebnis – Freunde wirken positiv(er) auf Stimmung und Selbstwertgefühl. Dieser Film „riecht“ in diese menschliche Tendenz. Jacques (BRIAN COX) betreibt also genannte New Yorker Abseits-Bar. Als wir ihm das erste Mal begegnen, ist er ein spannender Kotzbrocken. Vorher allerdings lernen wir erst einmal den unendlich traurigen, dünnen Lucas (PAUL DANO) kennen. Der haust auf den Straßen, ist obdachlos, füttert gerade eine kleine Katze (um dann auch am Futter zu nippen) und singt sie unter der Plane in den Schlaf. Jacques + Lucas treffen sich. Im Krankenhaus-Zimmer. Jacques, der Misanthrop, der Menschenfeind, hatte soeben seinen 5. Herzinfarkt; Lucas war lebensüberdrüssig, sein „zarter“ Selbstmordversuch scheiterte.

Jacques nimmt Lucas unter seine (Lebens-)Fittiche. Weil er befürchtet, dass er demnächst nicht mehr „durchhält“, will er den immeraktiven Philanthropen, den „unaufhörlichen“ Menschenfreund Lucas, als seinen Nachfolger aufbauen. In seiner farblich „reduzierten“ atmosphärischen Düster-Pinte. In der Frauen keinen Zutritt haben und Neukunden unerwünscht sind. Wo Tag für Tag ein seltsam „interessantes“ Männer-Dauervölkchen auftritt. „Haust“. Rauchschwaden, die also immergleichen Tresen-Typen, die auf keinen Fall „nett“ angesprochen werden dürfen, die immer ähnlichen Gespräche, „Diskussionen“. Konstanter Verbal-Hickhack. Bei „speziellen“ Getränken. Leberstarken ebenso wie soften. Die aber werden „speziell“ von Jacques „zurechtgemacht“: Lucas lernt, wie ein Espresso „zu höchster Kunst“ zelebriert wird, wie „perfekter Kaffee“ genau 24 Sekunden lang aufgebrüht werden muss. Wie alles seine bestimmte Bedeutung hat, etwa wenn man „draußen“ mit dem breiten Kombi eigentlich nicht durch die Reihen der parkenden Autos kommt, dies aber doch schrammend achselzuckend „schafft“. Eine Frau, wer sonst, bringt unangemeldet “Stress-Freude“ ins Bar-Zuhause: die schöne, etwas suffige Stewardess April (ISILD LE BESCO). Jacques kriegt sich gar nicht ein vor Ekel, Lucas zartet erste Gefühle. Jacques, das Herz, ab ins Krankenhaus, mal wieder. Währenddessen „pudern“ Lucas + April sein Zuhause um. Ach so ja, und dann bedarf es auch des Hinweises auf eine ständig „vorhandene“ lebendige Bar-Gans. Die dann auch noch eine gewichtige und so nicht absehbare „Funktion“ für den sehr verblüffenden Pointen-Schluss haben soll.

Ein kleines cineastisches Wunderwerk! Sprachlich, bildlich, gedanklich. Verletzend, aufreizend lächelnd, lakonisch-grotesk. Mit einer ausgesprochen berührenden minimalistischen Figuren- wie Situationskomik. Mit ganz feinem, schwarz-schelmischem Szenen-Humor. Mit einem vortrefflichen Ironie-Blick. Mit ausgesprochen wunderbar überzeugenden Figuren. Darstellerischen Wucht-Charakteren. Imponierend, weil so zärtlich, rüde, klobig, poren- wie seelentief stimmig/stimmungsvoll. Einfach fortwährend großartig berührend: Der 64jährige Schotte BRIAN COX, 1986 der erste „Hannibal Lecter“ in dem Michael-Mann-Krimi „Manhunter / Blutmond“ (2002-Remake, mit Anthony Hopkins: „Roter Drache“), dessen eindrucksvolle Visage schon aus vielen Nebenrollen-Auftritten bekannt ist („Braveheart“; „Die Bourne Identität“/-„Verschwörung“), liefert hier als kauziger Menschenhasser ein schauspielerisches Glanzstück ab. Seine Performance trifft präzise-genau die Balance zwischen Tragik und „Vater-Option“. Cox wühlt einen wüsten Ego-Trampel vor dem Herrn vor und trifft zugleich die sensible Ikone von Kneipen-Herrscher. Brian Cox ist hier ein Natur-Ereignis. Es ist SEIN großer, unvergessen bleibender Leinwand-Auftritt!

Genauso aber trifft dies auf seinen adäquaten Junior-Partner zu: Der am 19. Juni 1984 in New York City geborene PAUL DANO (der suizid-gefährdete Proust-Typ aus „Little Miss Sunshine“) als Lucas ist gefühlsbebend-pur; gutmütig, face-voll menschelnd, nahegehend, ohne dabei je peinlich, aufdringlich, lächerlich zu wirken, ganz im Gegenteil – als leiser „selbstloser Samariter“, der nichts hat, dem nichts gehört und der dennoch ewiger Gut-Mensch sein will und permanent auch ist: Auch diese Performance ist eine tief unter die Haut rührende, verzaubernde Ich-Aktion von großer Aufrichtigkeit und wahrhaftiger Menschlichkeit. Paul Dano erinnert in vielen Momenten an den jungen John Lennon (bildlich) und den elendigen „Asphalt Cowboy“ Dustin Hoffman (in dem John-Schlesinger-Klassiker von 1968). Beide, Brian Cox + Paul Dano, katapultieren sich hier in die Erste Liga der Weltschauspieler.

Ganz klar:
„EIN GUTES HERZ“ zählt zum Allerbesten, was das derzeitige Kino aufzubieten hat. Donnerwetter-Schön (= 4 ½ PÖNIs).

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