“Henry V.“ von und mit Kenneth Branagh war kürzlich der erste große, schöne, bombastische Kunst-Film, der klassisches Theater und Literatur zu grandiosem Kino vereinte (s. Kino-KRITIK). Jetzt ist ein zweites Werk zu bestaunen, und wieder ist es gigantisch-überzeugend:
„CYRANO VON BERGERAC“ von Jean-Paul Rappeneau (Co-B + R; nach dem gleichn. Theaterstück von Edmond Rostand; Fr 1990; Co-B: Jean-Claude Carrière; K: Pierre Lhomme; M: Jean-Claude Petit; 135 Minuten; deutscher Kino-Start: 17.01.1991). 1897 wurde die Geschichte von Edmond Rostand erdacht. Die Filmautoren sind: Jean-Claude Carrière und Regisseur Jean-Paul Rappeneau. In der Haupt- und Titelrolle: GÉRARD DEPARDIEU. Was für ein Kerl! Groß, bärenstark und aggressiv dirigiert er sich und seine Umwelt. Aber: Er ist auch verletzt frustriert, von sich selbst abgestoßen, angeekelt, weil ein großer Makel seine Gesichtszüge verunstaltet: seine überdimensionale Nase. Und so röhrt er durch die Gegend und schreit und fechtet und duelliert sich mit jedem Rotz. Doch Cyrano von Bergerac ist auch ein sanftmütiger, gütiger, liberaler, leiser Poet. Ein Meister der Verse und der Sprache. Und der hat sich verliebt. Keine Liebe, die vorübergeht, für den Moment, Augenblick, den Frühling, nein, es ist d i e Liebe, die ihn vollends rasender werden lässt. Denn: sie wird nicht erwidert.
Seine Angebetete, Roxane (ANNE BROCHET), ist in einen simplen Schönling, einen Blender, verliebt. Der lebt allein durch Cyranos Hilfe und Vorgabe durch dessen himmlische Worte, Gedichte, Erklärungen, durch dessen große Seele. Wir befinden uns im Olymp des Atems, der Gefühle, der Kraft und Besessenheit, wir befinden uns in der klassischen Literatur. Die ist entmottet, neu bedacht und hervorgezaubert worden, neu formuliert worden für ein begeisterndes, neues Spiel. Wir befinden uns in einem phantastischen Kraftfeld von Schönheit, Sinnlichkeit, Humor und Spannung. Plötzlich entfesselt sich das Kino wie von Sinnen, wird zu einem riesigen Abenteuer der Sprache und Emotionen, wird zu einem selten so erlebten Ort des höchsten Genusses: der einzigartigen Schauspiel- und Wort-Kunst. Jede Bewegung ist aufregend, jede Silbe verlangt nach mehr, und dieser alles beherrschende Gérard Depardieu scheint keine körperlichen und sprachlichen Grenzen zu kennen. Und diese feurige Inszenierung erst: Dieses tobende Leben, diese herrlichen Massen, diese berauschenden Kostüme, dieses stimmungsvolle Dekor. Diese beeindruckende Optik, diese vortreffliche Musik, dieser cineastische Ur-Knall von Herz und Schmerz.
“Cyrano von Bergerac“: Hier ist Bewegung im Spiel, ununterbrochen und durchschüttelnd, hier ist ein Ereignis angesagt. Das Kino wird zum schönsten und feinsten Theater-Saal. Setzt neue Maßstäbe, die das Theater ganz schön alt aussehen lässt. Im Vergleich. Nach 135 Minuten ist man sehr traurig das Kino so schnell wieder verlassen zu müssen. “Cyrano von Bergerac“: 1991 beginnt mit einem cineastischen Triumph (= 5 PÖNIs)!