Bourgeoisie, Arsch-Probleme und Nostalgie
Ein TIP-Interview mit Claude Chabrol und Hans-Ulrich Pönack von 1982
Claude Chabrol wurde am 24.Juni 1930 in Paris geboren. Er war für die Öffentlichkeitsarbeit des amerikanischen Verleihs „20th Century Fox“ zuständig und machte sich als Mitglied einer Gruppe junger Kritiker einen Namen, die in den 50er Jahren die populäre französische Fachzeitschrift „Cahiers du Cinema“ wiederbelebte. Mit Eric Rohmer veröffentliche er 1957 einen Artikel über Hitchcock, der damit erstmals im europäischen Cineastenkreis gewürdigt wurde.
Die Themen der Filme von Chabrol weisen wiederholt auf dessen Bewunderung und Verehrung für Hitchcock hin. Ende der 50er Jahre beginnt Chabrol mit der Realisation von Filmstoffen. „Le Beau Serge“ (deutscher Titel: „Die Enttäuschten“), der erste abendfüllende Spielfilm der „Nouvelle Vague“ angesehen. Er beinhaltet genau das, was für den Autor und Regisseur fortan von bestimmenden Interesse sein sollte: die Beschreibung und Ausleuchtung des sozialen Milieus der Protagonisten, die melodramatische Handlungsstruktur, in der gewöhnlich ein Mord vorkommt.
Der Film wurde von der Kritik wohlwollend aufgenommen und war kommerziell sehr erfolgreich.
In den nächsten 10 Jahren produziert Chabrol fast jährlich ein bis zwei Filme. Die meisten werden populär und machen ihn zu einem bissigen und sarkastischen Gesellschaftsankläger (u.a. „Schrei wenn Du kannst“, „Die Unbefriedigten“, „Der Frauenmörder von Paris“, „Champagner-Mörder“, „Zwei Freundinnen“, „Die untreue Frau“, „Das Biest muß sterben“). In der Bundesrepublik ist es vor allem die Kritik, die Chabrol immer wieder an das Kinopublikum „heranführt“. In den Filmen der 70er Jahre geht es Chabrol vorwiegend um Beziehungsprobleme und deren gesellschaftliche Hintergründe (u.a. „Der Schlachter“, „Doktor Popaul“, „Blutige Hochzeit“, „Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen“).
1978 dreht Chabrol mit „Violette Noziere“ seinen letzten Film innerhalb dieser Thematik und wendet sich danach mehreren Fensehprojekten zu. 1980 entsteht „Le cheval d’orgueil“, der bei uns kürzlich im Ersten Fernsehprogramm unter dem Titel „Traumpferd“ deutsche Erstaufführung hatte. Chabrol blickt darin zurück auf eine bretonische zu Beginn dieses Jahrhunderts. 1982 dreht Chabrol in der Bretagne „Die Phantome des Hutmachers“ nach einem Roman von Georges Simenon.
TIP: In der Bundesrepublik genießen Sie mit Ihren Filmen heute ein großes Ansehen. Ist das in Ihrem Heimatland Frankreich genauso?
Chabrol: In Frankreich befinde ich mich in einer etwa ähnlichen Situation wie die Schriftsteller, die bei ihren Verlagen in der Mitte stehen. Das heißt, die machen nie Bestseller, aber auch nie richtige Flops. Und als Regisseur befinde ich mich immer so in der guten Mitte.
TIP: Überraschend, das zu hören. Wären Sie nicht viel lieber irgendwo extremer angesiedelt?
Chabrol: Es gibt ein Extrem, das ich ablehne, und zwar das, wo sich niemand für mich interessiert. (Lacht). Das andere Extrem ist schwieriger. Das, was permanent Bestseller verlangt. Das Filmgeschäft ist im Grunde so organisiert, dass es öfters dazu führt, dass man in seiner eigenen Freiheit, Gedankenfreiheit, und Ausdrucksmöglichkeit eingeschränkt wird. Wenn man einen Riesenerfolg hat, versuchen die Produzenten, die Finanziere nicht, den nächsten Film zu machen, den der Regisseur will, sondern sie setzen alles daran, diesen Erfolg zu wiederholen.
Der Regisseur soll immer wieder denselben Film machen. So gibt es Filmemacher, die ihr Leben lang sich nur noch wiederholen. Die im Grunde nur einen einzigen Film gemacht haben. Meine Filme waren selten Bestseller, aber hatten glücklicherweise immer genügend Erfolg, so dass ich einen weiteren drehen konnte. Ich will sagen, sie hatten nie so viel Erfolg, dass ich immer denselben Erfolg wiederholen musste.
TIP: Aber bei den Gedanken an die Filme von Ihnen entsteht doch so etwas wie eine Schublade, eine Themen-Schublade.
Chabrol: Ich sehe diese Möglichkeit. Natürlich hätte ich damals, in den 60er Jahren, auf diese Zeit spielen Sie sicher an, meine Arbeiten auf eine längere Zeit, auf einen längeren Zeitraum verschieben können. Aber warum? Ich hatte meine Themen im Kopf und wollte sie so schnell wie möglich formulieren. Und durch den relativen Erfolg war dies auch möglich.
TIP: 1957 haben Sie zusammen mit Eric Rohmer einen berühmt gewordenen Aufsatz über Alfred Hitchcock geschrieben. Wie kam es damals dazu?
Chabrol: Die Lektüre, die ich mit Rohmer verfasst habe, war so eine Art organisiertes Delirium. Hitchcock wurde damals als Kretin, als trivialer Cineast betrachtet. Völlig unbedeutend. Was wir machten, war so etwas wie eine Aufklärungsarbeit, die viel Staub aufgewirbelt hat. Was bezweckt war. Man begann über Hitchcock nachzudenken. Er bekam einen anderen Stellenwert. Wir waren so etwas wie Hitchcock-Pioniere. Er hat damals viel Spaß gemacht diese Arbeit.
TIP: Es geht um Ihre Filme in den Sechzigern und Anfang Siebzigern. Die sperrten sich doch total gegen damalige Kinothemen und waren im Grunde Filme gegen, die damals ins – zumindest französische – Kino gingen: die Bürgerlichen. Wollten Sie die erschrecken, angreifen?
Chabrol: Das war nicht so sehr gegen diese Leute gerichtet, das war eigentlich mehr etwas aus der Sicht von jemand, der sich über gewisse Leute lustig machte, der sich über gewisse Arten zu denken amüsierte. Das war damals die Epoche des Wirtschaftswunders, wo jeder nur an seine eigene Bereicherung dachte. Und genau diese Leute, die sich so richtig satt in Materialismus suhlten, versuchte ich mit meinen Filmen zu treffen. Die Leute, die so satt waren, dass sie nur noch rülpsen konnten. In jener Zeit wurde ich mehr oder weniger unfreiwillig zum Marxisten. Marx sagte nämlich, dass nach der Lösung der materiellen und sozialen Probleme die Probleme des Arsches an die Oberfläche kommen. Und ich fand es lustig, diese sogenannten „Arsch-Probleme“ dieser Leute zu zeigen. Von Leuten, die glaubten, sie hätten keine sozialen Probleme mehr.
Dabei verhalten sich diese Leute, egal, wieviel Geld sie haben, immer gleich. Später kam dann der große Schock mit dem teuren Erdöl, und die Probleme stellten sich wieder ganz neu. Ich will damit sagen, dass meine Filme aus den sechziger Jahren sich ganz bewusst mit der damals existierenden Gesellschaft auseinandersetzten. Heute muss man einen völlig anderen Film machen.
TIP: Machte es Ihnen damals Spaß als Bürgerschreck aufzutreten?
Chabrol: Na ja, eigentlich war ich immer sehr skeptisch gegenüber diesen „Kampf“-Filmen, also Filmen, die nur eine politische Aussage transportieren wollen und sonst nichts. Vor allen Dingen dann, wenn sie von solch großen Konzernen finanziert und verliehen werden, wie das bei uns in Frankreich mit dem Giganten Gaumont der Fall war und ist. Meine Filme möchte ich deshalb auch nicht als Kampffilme verstanden wissen, sondern als lustige Grotesken. Ein Kinofilm ist vor allen Unterhaltung. Die politische Seite kann nur unterschwellig über diese Unterhaltung vermittelt werden und nicht umgekehrt. In gewisser Weise habe ich die Bourgeoisie, über die ich mich in meinen Filmen so mokiert habe, auch irgendwie gemocht. Ich komme ja selber aus dieser Schicht.
TIP: Und wie kamen Sie zu Ihren Geschichten?
Chabrol: Das war sehr unterschiedlich. Mal waren es Romanverfilmungen, dann erfundene Drehbuchstories. Immer, wenn ich eine Geschichte gefunden hatte, die mit dem übereinstimmte, was ich selbst erzählen wollte, habe ich sie in meinem Sinne aufbereitet und daraus einen Film gemacht. Wim Wenders hat das mit seinem Film „Der Stand der Dinge“ ganz ähnlich gemacht.
TIP: Hatten Sie denn immer die Freiheit, Freizügigkeit, auch das machen zu können, was Sie wollten? Gab es von Seiten der Geldgeber nie Bedenken?
Chabrol: Ich hatte immer geglaubt, wenn ich über Schweine berichten will, muss ich auch selbst eine Schweineschnauze haben. Sich so etwas aufzusetzen, ist natürlich auch ein bisschen gefährlich.
TIP: Wir sprechen von der de Gaulle-Zeit?
Chabrol: Ja, de Gaulle und Pompidou. Die Bourgeoisie unter Giscard hat mich dann nicht mehr interessiert, die fand ich einfach zu langweilig. Unter Pompidou waren die Leute herrlich fett und strotzend.
TIP: Wenn ich das richtig sehe, haben Sie mit Ihren Filmen vorwiegend bei der Kritik mehr Beachtung gefunden als beim Publikum. Wie erklären Sie sich diesen Umstand?
Chabrol: Das stimmt aber mehr für Deutschland als für Frankreich. Aber ich bin sehr glücklich darüber, dass hier in Deutschland die Kritik das Publikum auf meine Filme hinweisen konnte, und diese Filme wurden dann auch gut besucht. Ich bin kein Typ, der scharf kalkuliert, ob sein Film das Geld an der Kinokasse wieder einspielt, allerdings habe ich bislang da auch immer Glück gehabt. Ich glaube, dass sich ein Kritiker nur halb so oft irrt, wenn er etwas Positives schreibt. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber ich habe das beobachtet. Ich würde jedem Kritiker empfehlen, wenn er über einen Film schreiben muss, den er nicht mag, trotzdem die Dinge zu suchen, die er in dem Film gut findet. Da kommen hochinteressante Ergebnisse zutage. Solche Kritiken finde ich am interessantesten.
TIP: Sprechen Sie über Erfahrungen aus der Zeit, wo Sie selbst Filmkritiker gewesen sind?
Chabrol: Damals habe ich leider nur über Filme geschrieben, die ich mochte. Über die anderen wollte ich nichts machen. Das war ein Fehler.
TIP: Wie ist denn heute Ihr Verhältnis zur Kritik, zu Kritikern?
Chabrol: Mein Problem mit den Kritikern in Paris ist, dass ich sie seit Jahren kenne und sie regelmäßig treffe. Viele davon habe ich schon vor 20 Jahren kennengelernt, als diese versuchten, selbst Drehbücher zu schreiben, die ich dann verfilmen sollte. Dadurch sind dann automatisch falsche Beziehungen entstanden. Ich habe mich aber inzwischen zu einem Standpunkt durchgerungen: Ich finde alle Kritiker bewundernswert, die über meine Filme positiv berichten, und ich verabscheue alle Kritiker, welche meine Filme schlecht bewerten (lacht).
TIP: Wir waren jahrelang gewohnt, mindestens einen Chabrol-Film zu sehen. Das hat sich geändert. „Violette Noziere“ entstand 1978, kam dann ins Kino, 1980 haben Sie „Traumpferd“ – „Le cheval d’orgueil“ – gemacht, und der war kürzlich in deutscher Erstaufführung im Fernsehen zu bewundern. Und dieser letztgenannte war nun ein „ganz anderer“ Chabrol-Film, war in der Historie, der bretonischen, angesiedelt und erzählte in ruhigen, schönen Bildern vom Leben zu Anfang dieses Jahrhunderts. Begann mit ihm eine Art Rückbesinnung oder gar ein nostalgiebeladener Ausstieg?
Chabrol: Nein, das war ein Film über die Nostalgie, aber der Film selbst ist keine Nostalgie.
TIP: Eine TV-Rezension bemerkte jedenfalls zu Chabrol: „Unter der zynisch-stachligen Schale schlägt ein liebendes Herz“.
Chabrol: Die Nostalgie ist im Grunde heute Bestandteil der Gedanken der jungen Leute, mit Gefahren in Richtung Reaktion und Patriotismus. Aber es ist wirklich ein Film über Nostalgie und nicht ein nostalgischer Film geworden.
TIP: Mein erster Gedanke war, als ich das Thema las, dem Chabrol sind jetzt die Themen, die politischen Themen ausgegangen und deshalb dreht er jetzt einen Heimatfilm.
Chabrol: Naja, das ist so ein Phänomen mit diesem Film. Das Buch dazu war eigentlich furchtbar schlecht, aber in Frankreich ein Riesenerfolg. Einer der größten Bestseller der letzten Jahre überhaupt. Das unterstreicht den Wunsch nach der Nostalgie selbst, und deshalb wollte ich nicht dieses Buch verfilmen, sondern darüber einen Film machen. Das nostalgische Element hat offenbar so einen großen Stellenwert, dass das viele Leute nicht gemerkt haben. Also: Wenn ich über Schweine berichte, setze ich eine Schweinemaske auf, und wenn ich über die Nostalgie berichte, dann stehen mir die Glyzerin-Tränen in den Augen.
TIP: Was ist denn aus den Schweinen geworden, sind die ausgestorben?
Chabrol: Nein, die sind nur wieder dünn geworden. In drei, vier Jahren, denke ich, werden sie wieder fetter. Man schießt nicht gegen einen Krankenwagen.
TIP: Man könnte aber doch die Krankheit beschreiben?
Chabrol: Nein, dadurch könnte man sie ja heilen (lacht). Es ist eine Art Wartezeit im Moment. Man kann nicht mehr die Filme machen, die man in den Sechzigern gekommen?
TIP: Deshalb wahrscheinlich auch Ihre neueste Arbeit. „Die Phantome des Hutmachers“ hat mit Ihren alten Arbeiten – wenn ich mal in solchen Schubladenkategorien denken darf – nichts zu tun. Wie sind Sie auf diese Geschichte gekommen?
Chabrol: Ich habe schon sehr lange vorgehabt, diesen Simenon-Stoff zu verfilmen. Mehrere Sachen haben mich dabei interessiert. Zum einen ist da der Mensch, der sich zeigt, sich produziert, und dann gibt es den anderen , der das beobachtet. Im heutigen Gesellschaftsystem haben wir ja Leute, die sich produzieren und dabei auf dem Boden, fest auf der Stelle stehen. Und diejenigen, die zuschauen, das sind die Reisenden, sowohl physisch wie psychisch. Im Film ist der Hutmacher der Bodenständige , der Ortsansässige, der Fest-Eingelebte. Von der Definition her ist er ein Exhibitionist. Und der Schneider, der sein ganzes Leben lang gereist ist, ist von der Definition her ein Beobachter. Dazu kommt natürlich die Umkehrung. Dass der Reisende endlich mal bodenständig werden möchte und der Andere wahnsinnig gerne mal reisen würde. Aber diese Reise ist nur innerhalb seiner direkten Umwelt möglich. Und so bezieht der eine den anderen in seine Welt mit ein.
TIP: Ein Wort zu Michel Serrault. Der überragt alles und alle. Er spielt so überzeugend, so leidenschaftlich, dass er sogar Aznavour an die Wand drückt.
Chabrol: Die beiden Schauspieler werden aber im Film nicht gegenübergestellt. Die Welt, , die wir sehen, ist die des Hutmachers. Es ist wie im Zirkus, wo der Clown mit seiner ganzen Aura die Faszination auf sich zieht und alles um ihn herum zwangsläufig verblaßt. Aber ich gebe zu, dass es gefährlich ist zwei solche Schauspieler gegeneinander antreten zu lassen, denn dann fängt der Betrachter natürlich an zu vergleichen.
TIP: Hitchcock hat natürlich etwas mit Ihrem Film zu tun. Ich denke da insbesondere an „Psycho“, „Das Fenster zum Hof“ und „Der Fremde im Zug“. Zudem zeigen Sie kurz einmal ein altes Hitchcock-Titelbild einer „Paris Match“-Ausgabe. Das ist doch sicherlich nicht zufällig?
Chabrol: Nein, mein Film hat genau mit diesen drei Hitchcock-Filmen Gemeinsamkeiten.
TIP: Zwei alte Filmplakate tauchen im Film auf. Das eine stammt von dem alten französischen Streifen „Le Carrefour“ und das zweite von „Ben Hur“. Was hat es damit auf sich?
Chabrol: Das erste ist ein Plakat von 1936, das zweite von 1958. Man sieht zuerst ein Plakat von 1936, also könnte man den Film ungefähr in diese Zeitepoche einordnen. Aber die Tatsache, dass das zweite von 1958 ist, und ich habe bewußt das bekannte „Ben Hur“-Plakat genommen, bedeutet eine Art Verunsicherung. Es könnte ebenfalls einen Zeitabschnitt bedeuten, vielleicht aber auch auf die Zeitlosigkeit der Geschichte hinweisen.
TIP: In „Traumpferd“ sagt der Hauptakteur einmal: „Ich glaube nicht daran, ich bin Republikaner“. War und ist das eine politische Aussage Chabrols?
Chabrol: Man muss da den Zusammenhang sehen. Pierre-Alain erzählt eine Geschichte und sagt anschließend, er würde nicht daran glauben, also diese von ihm erzählte Geschichte nicht glauben, weil er Republikaner sei. Das ist so jemand, der gleichzeitig Republikaner und Bretone sein kann. Nein, ich möchte nie eine direkte politische Aussage in meinen Filmen abgeben.
TIP: Aber überspitzt gesagt könnte man doch behaupten, dass auch Ihre vielen Filme mit dazu beigetragen haben, dass jetzt ein politischer Wechsel in Frankreich stattgefunden hat.
Chabrol: So ein Einfluss ist mit Sicherheit überhaupt nicht messbar. Allerdings, einen Rechtsruck hätten meine Filme sicherlich nicht auslösen können, das steht fest.
TIP: Sind Sie denn mit dem Wechsel nicht zufrieden?
Chabrol: Oh doch, darüber bin ich sehr glücklich. Allein schon deshalb, weil die letzten Regierungsmitglieder unmöglich aussahen (lacht).
TIP: Der Großvater in „Traumpferd“ sagt einmal: „Jeder Tag ist ein Krieg“. Auch für Sie?
Chabrol: Ich mag dieses Gefühl, um etwas zu ringen, sich für etwas einzusetzen. Manchmal aber fühle ich mich leider eher wie ein Soldat auf Heimaturlaub.
TIP: Unvorstellbar, ein Chabrol als beurlaubter Kämpfer?
Chabrol: Pausenlos bin ich auch nicht auf Urlaub. Und wenn man nicht von der ganzen Scheiße überschwemmt werden will, muss man wirklich jeden Tag kämpfen.
TIP: Also künftig wieder „Kämpfer-Filme“ oder wieder Novellen-Adaptionen?
Chabrol: Mein nächstes Projekt, an dem ich schon ziemlcih lange arbeite, spielt 1938 und findet in der Nähe von München statt. Es geht um Leute, die einen Maskenball veranstalten. Und danach will ich einen Film machen über Menschen, die in ihrer Kindheit eng befreundet sind und sich nach 25 Jahren wiedertreffen und aneinander Rache üben.
TIP: Sind das Ideen, die mit Ihnen selbst zu tun haben, oder Adaptionen von vorgegebenen Stoffen?
Chabrol: Die Geschichte von 1938 hat natürlich einen politischen Hintergrund, und bei der anderen Geschichte geht es mehr um zwischenmenschliche Sachen, die aber natürlich auch ihren politischen Ursprung haben.
TIP: Es fällt mir auf, dass diese Projekte auch wieder in der Vergangenheit spielen. Finden Sie keine interessanten aktuellen Sachen mehr?
Chabrol: Die Anekdoten, die heute in der Zeitung stehen, die mag ich nicht so sehr. Denn zu denen fehlt einem die Distanz, die man für eine Geschichte so dringend braucht.
CLAUDE CHABROL zum 60. Geburtstag
Als Claude Henri Jean Chabrol wird er am 24. Juni 1930 in Paris als Sohn eines Apothekers geboren. Einen großen Teil seiner Jugend verbringt er in dem Dorf Sardent im mitteifranzösischen Departement Creus, in dem auch später sein erster Film spielt. Dort richtet er während des Krieges als 13jähriger für einen Holzhändler in einer Garage einen improvisierten Kinobetrieb ein. Claude soll die väterliche Apotheke übernehmen. Deshalb studiert er 2 Semester Pharmazie und Literatur an der Pariser Universität und erwirbt ein literaturwissenschaftliches Diplom. Doch schon als Student wendet er sich immer mehr dem Film zu. „Mein Seminarraum war das Kino“, wird er später sagen.
Mitte der Fünfziger wird er Mitglied eines Kritiker-Zirkels, der als die „Keimzelle“ der „Neuen Welle“ des französischen Films gilt. Mit Kollegen wie Truffaut, Louis Malle, Rohmer oder Godard verbindet ihn bei der Zeitschrift „Cahier du Cinema“ die Begeisterung für das amerikanische Kino, für Hitchcock, Hawks oder John Ford. Oder Fritz Lang. Und dies ist damals keineswegs selbstverständlich, erregt also Aufsehen. Über die Öffentlichkeitsarbeit bei einem amerikanischen Filmverleiher in Paris und einer umfangreichen Erbschaft entsteht der Filmemacher Claude Chabrol.
Nach zwei Kurzfilmen dreht er 1957 seinen ersten langen Spielfilm „Die Enttäuschten“, der bei den Filmfestspielen von Locarno 1958 ausgezeichnet wird. Danach entsteht, wiederum als Produzent, Autor und Regisseur in einer Person, „Schrei, wenn Du kannst“, der 1959 auf der Berlinale den „Goldenen Bären“ gewinnt. Diesem so furiosen und erfolgreichen Start folgen in den nächsten drei Jahrzehnten rund 40 Spielfilme, die vor allem die Doppelmoral und Gemeinheiten des französischen Großbürgertums zum bevorzugten Thema haben. Chabrol gilt über viele Jahre als d e r Bourgeoisie-Kritiker und -Spötter des französischen Kinos. Filme wie „Die untreue Frau“, „Das Biest muß sterben“, „Der Schlachter“ oder „Blutige Hochzeit“ finden internationale Beachtung und Anerkennung. Die Doppeldeutigkeit und Abgründigkeit der kleinbürgerlichen Seele, das sind die Dinge, die ihn amüsant und boshaft werden lassen und ihn zu einem Regie-Star in Europa machen. Aber auch: Immer wieder Verbeugungen vor Größen wie Hitchcock.
Mit „Champagnermörder“ beispielsweise gelingt ihm 1966 ein Spannungswerk, das seinem großen Vorbild sehr nahe kommt. Ende der 70er Jahre beginnt Claude Chabrol sich anderen Themen zuzuwenden. Die Zeit des Hohns und des Zynismus über die Auswüchse der Bourgeoisie ist vorbei. Frankreich wählt links, Chabrols Fernseh- und Kinofilme werden unverbindlicher, kommerzieller. 1982 entsteht „Die Phantome des Hutmachers“, ein sensibles Spannungsstück um bretonische Kleinstadt-Schicksale, frei nach Simenon. 1985 entwickelt er nochmal Höchstform und entwickelt die durchtriebene Anarcho-Figur des Pariser Polizeiinspektors Lavardin in „Hühnchen in Essig“. In „Masken“ werden 1987 die mächtigen Umtriebe des Fernsehens auf die boshafte Schippe genommen (s. auch Kinokritik) oder „Der Schrei der Eule“, 1987, die eher laue Adaption einer Patricia-Highsmith-Vorlage um zwischenmenschliche Seelenqualen. Dann, 1988, wieder ein filmischer Höhepunkt: „Eine Frauensache“. Thema: Die doppelbödige Heuchelei und Unmoral des Vichy-Regimes während der Nazi-Besetzung in Frankreich. Anhand der Geschichte einer „unmoralischen“ Mutter, die von den Machthabern angeklagt und zum Tode verurteilt wird, schafft Chabrol ein aufsehenerregendes, vielschichtiges Pamphlet.
Der kürzlich entstandene Film „Dr. M“, den er in teurer deutsch-französisch-italienischer Co-Produktion als angebliche Hommage an Fritz Lang und dessen „Dr. Mabuse“-Figur gedreht hat, misslingt dem großen Franzosen total (s. auch Kinokritik). Erstmals ist ein Chabrol völlig danebengegangen, nach über 30 Berufsjahren. Jetzt ist er wieder zuhause und
will sich in diesem Jahrzehnt vor allem um ‚Frauen-Themen‘ kümmern. Claude Chabrol fühlt sich überhaupt nicht alt und betrachtet seinen 60. Geburtstag am Sonntag eher mit ironischer Gelassenheit.
CLAUDE CHABROL zum 70. Geburtstag „DeutschlandRadio Berlin“ vom 24.06.2000
CLAUDE CHABR0L – ein Filmemacher, der seit über 40 Jahren ununterbrochen akti- ist. Unter den bedeutenden europäischen Regisseuren gilt immer noch als einer der fleißigsten. Zurzeit arbeitet er gerade an seinem 52. Spielfilm. Titel: „Merci pour le chocolat“
CLAUDE CHABROL – heute wird er 70 Jahre. alt. Hans-Ulrich Pönack mit seinem Porträt über diesen großen europäischen Cineasten:
Als Claude Henri Jean Chabrol wird er am 24. Juni 1930 in Paris als Sohn eines Apothekers geboren. Einen großen Teil seiner Jugend verbringt er in dem Dorf Sardent in der mittelfranzösischen Provinz, wo später auch sein erster Film spielen wird. Dort richtet er während des Krieges als 13jähriger für einen Holzhändler in einer Garage einen improvisierten Kinobetrieb ein.
Claude soll die väterliche Apotheken übernehmen. Deshalb studiert er 2 Semester Pharmazie und dann Literatur an der Pariser Universität. Er erwirbt ein literaturwissenschaftliches Diplom. Doch schon als Student ist er Filmenthusiast. „ein Seminarraum war das Kino“, wird er künftig behaupten.
Mitte der 50er Jahre wird Chabrol Mitglied eines Kritikerzirkels, der als die Keimzelle der „Nouvelle Vague/der Neuen Welle“ des französischen Films gilt. Mit Kollegen wie Francois Truffaut, Jean-Luc Godard oder Louis Malle verbindet ihn bei der Zeitschrift „Cahier du Cine“ die Begeisterung für das amerikanische Kino: Für Alfred Hitchcock, Howard Hawks oder John Ford. Und dies ist damals keineswegs selbstverständlich, erregt also Aufsehen. Über die Öffentlichkeitsarbeit bei einem amerikanischen Filmverleih in Paris und infolge einer umfangreichen Erbschaft entsteht der Filmemacher Claude Chabrol. Nach zwei Kurzfilmen dreht Chabrol 1957 seinen ersten Spielfilm: „Die Enttäuschten“. Danach inszeniert er, wiederum als Produzent, Autor und Regisseur, „Schrei, wenn du kannst“, der 1959 auf der Berlinale den „Goldenen Bären“ gewinnt.
Diesem erfolgreichen Start folgen in den nächsten Jahren viele Filme, die vor allem die Doppelmoral. und Gemeinheiten des französischen Großbürgertums zum bevorzugten Thema haben. Mit Werken wie „Die untreue Frau“, „Das Biest muß sterben“, „Der Schlachter“ und „Blutige Hochzeit“ wird Claude Chabrol d e r Bourgeoise-Kritiker und Spötter des französischen Kinos. Die Doppeldeutigkeit und die Abgründe der kleinbürgerlichen Seele, das sind d i e Dinge, die ihn amüsant und boshaft zugleich werden lassen. Und die ihn zu ein Spitzen-Regisseur in Europa machen.
Ende der 70er Jahre beginnt Chabrol, sieh anderen Themen zuzuwenden Frankreich wählt links, Chabrols Kino- und Fernsehfilme werden unverbindlicher. Doch dann besinnt er sich auf sein Vorbild Hitchcock. Und mit imposanten gesellschaftskritischen Spannungsfilmen wie „Die Phantome des Hutmachers“, „Masken“ und „Eine Frauensache“ sowie den Inspekto Lavardin-Streifen für Leinwand und Bildschirm meldet sich Chabrol eindrucksvoll zurück. In den 90er Kino-Jahren interessieren ihn mit Filmen wie „Madame Bovary“, „Biester“ und „Die Farbe der Lüge“ vor allem starke Frauenfiguren und -Schicksale.
Claude Chabrol, ein großer Cineast und übrigens auch Gourmet wird heute 70 Jahre alt.