CAPERNAUM – STADT DER HOFFNUNG

„CAPERNAUM -STADT DER HOFFNUNG“ von Nadine Labaki (Co-B + R; Libanon 2016/2017; Co-B: Jihad Hojeily; Michelle Keserwany; K: Christopher Aoun; M: Khaled Mouzanar; 123 Minuten; deutscher Kino-Start: 17.01.2019); es ist der dritte Kinospielfilm der 44-jährigen libanesischen Filmkünstlerin NADINE LABAKI. Wir hatten das Glück, dass auch ihre ersten beiden Werke unsere Kinos erreichten: sowohl „Caramel“ (2008/s. Kino-KRITIK) wie auch „Wer weiß, wohin“ (2011/s. Kino-KRITIK). Ihr dritter Spielfilm ist ein Meisterwerk.

Das wahrhaft unter die Haut geht. Sich Filme anzuschauen bedeutet auch, dies in einer Art Beherrschungsroutine zu tun. Deshalb gab es bisher für mich nur zwei Spielfilme, in denen im Kino „Tränen“ flossen. Nicht vor sentimentaler Rührung, sondern dank einer unglaublichen und nicht mehr zurückzuhaltenden Sog-Wirkung. Der eine war „Schindlers Liste“ (s. Kino-KRITIK), der vor 25 Jahren (am 1. März 1994) in die Kinos kam und am 27. Januar 2019, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, in technisch überarbeiteter Version wieder in die deutschen Kinos kommt; und der andere Film ist ein gewaltig-tierisches Rührstück: „HACHIKO – Eine wunderbare Freundschaft“ von Lasse Hallström (2009/s. Kino-KRITIK/mit Richard Gere) um die GANZ tiefe Freundschaft zwischen Hund und Mensch. Bei diesem Film „Capernaum“ muss man sich ebenfalls der Tränen nicht schämen.

Capernaum, aus dem Hebräischen, bezeichnet eine untergeordnete Ansammlung von Objekten, einen Ort voller Chaos. „Capernaum“ – ein biblisches Fischerdorf am Nordufer des Sees Genezareth, Wohn- und Wirkungsort Jesu. Hergeleitet von der Menschenansammlung vor Jesus‘ Haus, bedeutet es auch „ungeordnete Ansammlung von Objekten“ oder „Chaos“. In diesem Sinne diente es Nadine Labaki als Inspiration (Presseheft).

Zain (ZAIN AL RAFEEA) ist so um die 10-/12 Jahre alt. Der Junge lebt in Beirut, hat keine Papiere, und die Familie weiß auch nicht mehr genau, wann Zain geboren wurde. Zain wurde ins Gefängnis gesperrt. Weil er „diesen Hurensohn“ niedergestochen hat. Welchen Hurensohn? Und warum diese Gewalt? Zain muss erneut vor einen Richter. Diesmal nicht als Angeklagter, sondern als Ankläger. Er klagt seine Eltern an. Dass sie ihn geboren haben. Dass er solch ein unwertes, gemeines Leben als Kind führen muss. Er will erreichen, dass sie nie mehr Kinder zur Welt bringen. Während der Verhandlung erfahren wir vom unglaublichen, unfassbaren, entsetzlichen heutigen Dasein dieses Jungen.

Dessen Eltern offensichtlich keiner geregelten Arbeit nachgehen, noch irgendwelche amtlichen Papiere besitzen. Und andauernd Kinder zeugen, damit ihr Überleben gesichert ist. Zusammengepfercht haust man mit Zains vielen Geschwister in einer klitzekleinen Art Wohnung, die von einem „Vermieter“ nicht ohne Absicht und Hintergedanken kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Denn er „rechnet“ mit den Kindern dieser Familie. Die für ihn arbeiten oder später arbeiten sollen. Zains Wunsch, zur Schule gehen zu dürfen, lehnt der Vater kategorisch grob ab. Seine Kinder sind schließlich dazu da, „Geld“ zu machen. Das (erbärmliche) Leben der Sippe zu sichern. Als seine geliebte 11-jährige Schwester von den Eltern an den Vermieter verscherbelt wird, rastet Zain aus. Und flieht von Zuhause. Irrt auf den Straßen umher. Findet Unterschlupf bei einer jungen Mutter aus Äthiopien, Rahil (YORDANOS SHIFERAW), die illegal in Beirut lebt, um tagsüber, wenn sie als Putzfrau arbeitet, auf ihr einjähriges Baby Yonas aufzupassen. Doch dann kommt die Frau eins Tages nicht zurück, und Zain muss sich mittellos und allein mit dem kleinen Kind durch die labyrinthischen Slums von Beirut kämpfen.

Ein Kind klagt seine Eltern an und mit ihnen eine ganze zivile Gesellschaft, die „so etwas“ zulässt.

Dieser Film tut – wichtig – richtig weh. Während sich die Kamera ständig auf Augenhöhe von Zain bewegt, der nicht wie ein Kind seines Alters sein darf, sondern „erwachsen“ handeln muss, damit er und sein kleiner Begleiter nicht gänzlich untergehen. Was hier sowieso niemanden interessieren, wovon kaum jemand Kenntnis nehmen würde. Doch Zain lässt nicht locker. Will nicht aufgeben. Auf keinen Fall untergehen.

Die libanesische Filmemacherin will kein Mitleid, sondern das Zuschauen. Der Zuschauer erreichen. Interessieren. Erregen. Deren Empathie erreichen. Sechs Monate Drehzeit vor Ort, mit Laienschauspielern, die sich quasi selbst spielen, ergab 520 Stunden Material. Gedreht zwischen Mauern, die identische Tragödien tagtäglich sehen, mit einem Minimum an Sets. Die Realität-hier spuckt ständig ans/ins Gehirn. „Die Idee dahinter lautet: Wie komme ich dazu, diese Leute zu hassen oder zu verurteilen, über deren Erfahrungen und Alltagsrealität ich nichts weiß?“ (Nadine Labaki im Presseheft). Dennoch setzt sie nicht auf politische, ideologische Ausrufungszeichen, sondern – reichlich – auf Beobachtung. Auf das Erzählen. Auf dass wir mitgenommen werden. Konzentriert, aber unterhaltsam. Berührt, aber nicht emotional-verquast.

Den Unterschied zu vielen anderen Milieu-Filmen macht dieser kleine Schauspieler-Boy aus: ZAIN AL RAFEEA. Geboren am 10. Oktober 2004 in Daraa, Syrien. Dessen sanft-kantiger Charakter, ein Mix aus Gewitztheit und herzzerreißendem Charisma, an einen kleinen Charlie Chaplin-Vagabunden denken lässt. Gepeinigt, geprügelt, verjagt, aber immer wieder aufstehend und pfiffig fightend. Auf Humanität hoffend. Setzend. Das menschliche Miteinander „trotzdem“ für möglich haltend. Der Film-Junge ist ein Juwel. Seine Unbekümmertheit rührt zu ehrlichen Tränen.

„Capernaum“ wurde beim letztjährigen Cannes-Festival minutenlang mit stehenden Ovationen gefeiert, bekam den „Preis der Jury“ zugesprochen und geht demnächst in den Wettbewerb um den Auslands-„Oscar“. „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ ist ein ungeheuerlicher Wirklichkeits-Spielfilm als Meisterwerk (= 5 PÖNIs).

P.S.: Für den kleinen ZAIN AL RAFEEA und seine Eltern gab es ein Happy-End. Mit Hilfe von UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, konnten Zain und seine Familie inzwischen nach Norwegen auswandern. Sie haben die Chance, dort ein neues Leben zu beginnen und Zain darf endlich eine Schule besuchen. (Presseheft).

 

 

 

 

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