„ANOTHER YEAR“ von Mike Leigh (B+R; GB 2009; 129 Minuten; Start D: 27.01.2011); was für ein kostbares Stück Film, wunderbar!!! Der lange Zeit Favorit für die „Goldene Palme“ beim vorjährigen Cannes-Festival war. Was aber nicht verwundert, denn schließlich ist es ein Werk von einem der profiliertesten Filmemacher überhaupt. Der am 20. Februar 2011 67 Jahre alt werdende Brite MIKE LEIGH hat mit fast jedem seiner Filme ein Ereignis geschaffen, etwa: „Nackt“ (1993/“Bester Regisseur“ in Cannes); „Lügen und Geheimnisse“ (1996/“Goldene Palme“ von Cannes); „Karriere Girls“ (1997); „Vera Drake“ (2004/“Goldener Löwe“ von Venedig), zuletzt mit „Happy-Go-Lucky“ (2008/mit der quirligen Sally Hawkins; „Silberner Berlinale Bär“). Und nun ist wieder von einem grandiosen Leinwand-Epos zu berichten: Ganz simpel, ganz klar, ganz einfach, ohne Fallstricke, konstruierte Spannungszusätze, von immenser Humanität und Identifikationswirkung.
Im Mittelpunkt: Das in die Jahre gekommene Londoner Ehepaar Tom & Gerri. Die leben in einem über die vielen Jahre harmonischen, liebevollen, respektvollen Miteinander. In ihrem kleinen Vorort-Häuschen. Im Rhythmus der Jahreszeiten. Denn sie besitzen in der Nähe noch einen Schrebergarten. Den sie gerne hegen, pflegen, ernten. Gerri arbeitet als Therapeutin im Gesundheitsamt; Tom untersucht als Geologe die Bodenbedingungen für zukünftige Bauprojekte. Man ist gesellig. Lädt Freunde ein. Wie Mary (LESLEY MANVILLE), eine alleinstehende, „ziemlich nervöse“ Arbeitskollegin von Gerri. Eine verkrampfte Mammsell, die sich selbst viel im Wege steht. Oder wie der rundliche Ken (PETER WIGHT), einem Jugendfreund von Tom. Der sein Selbstmitleid trinkend pflegt. Und auch mit seinem Solo-Dasein reichlich unzufrieden ist. Und die hektische Mary vergebens anbaggert. Denn DIE will einen „Besseren“.
Die „spezielle“, völlig unverkrampfte, absolut „normale“ Nest- und Herzenswärme im Hause Tom & Gerri findet „Zulauf“, vor allem die emotional instabile Mary darf hier unverblümt und unangegriffen ihre Neurosen „mitbringen“. Man spricht miteinander, isst und trinkt zusammen, Lebensratschläge machen die Runde. Aber es zeigt sich auch, wie kostbar so eine Partnerschaft wie DIE von Tom & Gerri ist. Während drumherum Trauer, Zickigkeit, „Aufregungen“, Palaver über ein mögliches, aber bisher nicht erreichtes, aber unbedingt angestrebtes „glücklicheres Leben“ angezeigt wird, angesagt ist, bemühen sich Tom & Gerri zuzuhören, darauf einzugehen, mit Ratschlägen beizustehen. Einfach „da“ zu sein. Und dabei auch ihre „familiären Sachen“ zu pflegen, zu erledigen. Denn der 30jährige Sohn Tom (Oliver Maltman), auf den (inzwischen) Dauer-Besucherin Mary mehr als ein Auge geworfen hat, bringt eine gern aufgenommene mögliche Schwiegertochter ins Haus, was Mary natürlich überhaupt nicht passt. Und Toms Bruder Ronny, dessen Ehefrau verstorben ist, muss nun auch „betüttelt“ werden. Es gibt also immer etwas zu tun. Zu denken. Zu be-sprechen. Zu machen. Zu jeder Jahreszeit.
Menschen wie Tom & Gerri werden dabei zu menschlichen Juwelen, obwohl sie sich doch absolut normal, unaufgeregt, mitteilsam bewegen. „Nichts besonderes“ machen, darstellen. Nur einfach SIE sind. Sie selbst.
Und dies wirkt „irre“. Wirft ein Augenmerk auf Uns. Die wir zuschauen, zuhören. Warum sind wir dermaßen überrascht, angetan, erstaunt, angemacht, entzückt über ein Paar, das sich „ganz normal“ mag, freundlich miteinander umgeht, einlädt, zuhört, mitteilsam ist. Sich als „keine sonderliche Spezies“ erweist, sondern als mögliche Du und Ich-Normalos. Verrückt schön so etwas, aber auch betrüblich. Wenn Tom & Gerri, ohne dies zu wollen und zu sein, mitunter wie „wundersame Gestalten“ aus einem fabelhaften Märchenbuch wirken, scheint etwas „allgemein“ mit uns, um uns herum, nicht (mehr) zu stimmen. Und dies ist die reizvolle Denk-Lesart dieses außerordentlichen wie aufwühlenden Meisterwerks. Das dem wahren Mensch-Sein wieder eine gute Seelen-Portion näher rückt, ohne dies als Fahne, als Botschaft oder als religiöse Verkündigung zu vermitteln. Sondern als tollen, mitteilsamen, lächelnden, humanen Kinofilm.
Mit einem exquisiten Ensemble und einem erstklassigen Führungspersonal: Der 61jährige JIM BROADBENT, der 2001 für die Rolle des Ehemanns in dem Alzheimer-Drama „Iris“ einen Nebendarsteller-“Oscar“ bekam und dessen Gesicht aus vielen besseren britischen oder amerikanischen Produktionen wohlbekannt ist („Harry Potter und der Halbblutprinz“; „Little Voice“; „Bullets Over Broadway“ von Woody Allen), und RUTH SHEEN, Stamm-Akteurin bei Mike Leigh und von unverwechselbarer Statur, sind als Tom & Gerri ganz fein dicht seelen-dran, stark präsent, ansteckend menschlich. Zutiefst passend.
„Another Year“ darf schon jetzt, Ende Januar, zu den Perlen des Film-Jahres 2011 gezählt werden (= 5 PÖNIs).