ÜBER DIE UNENDLICHKEIT

PÖNIs: (5/5)

 „ÜBER DIE UNENDLICHKEIT“ von Roy Andersson (B + R; Schweden/D/Norwegen 2019; K: Gergely Pálos; M: diverse Interpreten; 77 Minuten; deutscher Kino-Start: 17.9.2020; Heimkino = DVD/Blu-ray: 25.3.2021);

Roy Andersson, Jahrgang 1943, gehört zu den besten Vertretern des europäischen Autorenkinos. Ausführliches über ihn und sein Wirken siehe = „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ (s. Kino-KRITIK), 2014 Gewinner des „Goldenen Löwen“ bei den Festspielen von Venedig. Schon damals und jetzt wieder überragend: Das Aufeinandertreffen, das Zusammenspiel zwischen Menschen und Räume, von Trivialität und spöttischem Sinn = siehe zutreffenden Titel. Folgen: Die – eigentlich – nichtigen Besonderheiten beim Existieren. Von Uns. Einfachen Menschen.

Banalität und Tragik. Beziehungsweise umgekehrt. Es ist schon September!: „Ich sah einen Mann, der war mit seinen Gedanken ganz woanders“. Klärt die Erzählerin auf. „Ich sah einen Mann, der vertraute Banken nicht und bewahrte seine Ersparnisse unter seiner Matratze auf“. Dann folgt dieser grässliche Kreuzzug auf der Straße: „Sie haben mich angenagelt“. Sogleich betrachten wir: „Ich sah einen jungen Mann, der hatte die Liebe noch nicht kennengelernt“. Und erfahren: „Alpträume zu haben, ist nichts ungewöhnliches. Jeder hat sie ab und zu“. 

Einzelszenen. Gefüllt durch gedankenvolle Minuten-Sequenzen. „Ich interessiere mich für die Künstler der Neuen Sachlichkeit“, begründet Roy Andersson sein Handeln im Presseheft. Während wir erstaunt und baff sind über die immense Einzel-Fülle von: Abgekämpft, Armut, Wut, Trauer, Empörung, Schlichtheit, Poesie, wenn das Paar über das durch Krieg zerstörte Köln fliegt, Provokation, aber auch Elend und Protest. Beim Pfarrer: „Ich weiß nicht, was ich will. Wenn man seinen Glauben verloren hat, was kann man da tun?“ Doch die Suche nach DER Antwort ist schwierig: „Ich muss meinen Bus kriegen!“, wimmelt ihn sein Arzt ab. „Ich sah einen Mann, der hatte sich verirrt“. 

Ich sah eine Frau, die hatte ein Problem mit ihrem Schuh“. 

Diese magische Musik. Zum Beispiel durch einen Chor. Mit sanfter Zuneigung. Menschen leben. Wissen sie davon? Wenn man diese engen grauen, kargen, düsteren Räume betrachtet, scheint die Architektur angeglichen. Die darin rotierenden Lebewesen übernehmen deren kühle Ähnlichkeit. „Ich sah einen Mann, der war auf eine Landmine getreten und hatte seine Beine verloren und das machte ihn sehr traurig“. 

Schließlich: „Ich sah einen Mann, der wollte die Ehre seiner Familie retten – und dann tat es ihm leid“. Nein? Dann schließlich dies: „Ich sah einen Mann, der hatte Probleme mit seinem Auto“. 

Was für ein merkwürdiger, eigenwilliger Film. Was für eine faszinierende Trostlosigkeit im Minuten-Format. Was für eine kosmische Erschütterung um normalen Dilletantismus. Und Hitler verspürt die letzten elenden Momente im Bunker. Während seine geschlagene Armee mutlos zu einem Gefangenenlager marschiert. Wie treffend.

„Roy Andersson schenkt uns wieder einen unendlichen künstlerischen Genuss“ (Alejandro Inárritu).

Fahrgast: „Darf man denn nicht mehr traurig sein?“  Zweiter Fahrgast: „Aber warum kann er nicht einfach zu Hause traurig sein?“

Er ist zum vielfachen Brüllen und Schnaufen, dieser faszinierende, erschreckende Auf-Schrei. Richtung komisch-absurder Alptraum. Die Unendlichkeit kann starten (= 5 PÖNIs).

Teilen mit: