DER WEIßE TIGER

PÖNIs: (5/5)

„DER WEIßE TIGER“. Von dem amerikanischen Filmemacher RAMIN BAHRANI (Regie, Co-Produktion, Drehbuch). USA 2019; 128 Minuten. Nach dem gleichnamigen Debütroman des indischen Schriftstellers und Journalisten ARAVIND ADIGA aus dem Jahr 2008. Englischer Originaltitel: „The White Tiger“. Dieser Roman, der in Form eines Briefromans rückblickend den Aufstieg eines indischen Außenseiters erzählt, erschien erstmals 2008 und wurde noch im selben Jahr mit dem britischen Literaturpreis „Man Booker Prize“  ausgezeichnet. Nach Kiran Desai, Arundhati Roy und Salman Rushdie war Aravind Adiga damit der vierte indischen Autor, der diesen angesehenen britischen Literaturpreis erhielt. Gleichzeitig war es das vierte Mal, dass das Auswahlkomitee einen Debütroman auszeichnete. Und: 2008 erschien hierzulande gleich auch die deutsche Roman-Ausgabe, übersetzt von Ingo Herzke. Klar: „Der weiße Tiger“ entwickelte sich zu einem internationalen Verkaufserfolg und erreichte unter anderem die Bestsellerliste der „New York Times“. 

Kennen wir dies?: Na klar. Du wirst geboren. Bist in diesem Moment völlig unschuldig. Danach nicht mehr. Balram kommt auf die Welt. Wächst in einem kleinen armen Dorf im indischen Norden auf. Inmitten einer Sippe, die das Kastensystem verinnerlicht hat. Ein gesellschaftlicher Aufstieg ist nicht vorgesehen. Man hat sich damit abgefunden, dienend zu existieren. Findet „das“ sogar in gültiger Ordnung. Man produziert Süßwaren. Balram wird perspektivlos erzogen: Von wegen – dein Lebenssinn und -zweck ist einzig, irgendwann ein treuer Diener einer angesehenen Herrschaft zu sein. Mit selbstverständlichem Buckeln. Balram hat dies vereinnahmt. Natürlich akzeptiert. Sich dagegen aufzulehnen, käme für ihn nie infrage. Ich unten. DIE oben, mit Geld und Macht. „Der Wunsch, ein Diener zu sein, war mir eingepflanzt worden, in mein Blut gegossen, in meinen  Schädel gehämmert“. Balram will ein guter Diener sein. Er ist ein wissbegieriger Junge. Obwohl er die Schule bald verlassen muss. Die Großmutter bestimmt in der Familie. Befiehlt, was er „machen“ darf. Und soll. Arbeit und Bald-Heiraten, lautet seine Bestimmung. Doch Balram, ganz Untertan, will solch einem niederen Schicksal versuchen auszuweichen. Bewirbt sich bei einem Großgrundbesitzer als Fahrer und wird von dessen Sohn, der gerade mit seiner amerikanischen Freundin aus New York zurückgekehrt ist, engagiert. „Was ist ein Diener ohne einen Herrn?“. Balram möchte nicht in dem Hühnerkäfig INDIEN vegetieren. „99,9 Prozent sind in einem Hühnerkäfig gefangen“: Dort ist es voll, eng, schmutzig, mit Hahnenkämpfen, und am Ende wird sowieso geschlachtet. Balram bemüht sich demütig, unterordnend und ehrergiebig „zu gefallen“. Hat aber auch mit seiner Bauernschläue begriffen, „kleine“ Listigkeiten vorteilhaft zu benutzen. Anzuwenden. „Wahlversprechen hatten mich gelehrt, wie entscheidend es ist, kein Armer in einer freien Demokratie zu sein“. Der Sohn seines Chefs, Ashok (RAJKUMMAR RAO), und dessen Freundin Pinky (PRIYANKA CHOPRA), behandeln Balram zunächst wie einen „Zugehörigen“, und Balram lächelt wie er nur kann und schuftet wie es verlangt wird. Und wohnt im ekligen unterirdischen Kellergewölbe. Doch dann „bewegen“ sich die Positionen. „Für die Armen gibt es nur zwei Wege, nach oben zu kommen: Verbrechen oder Politik“. Ashok ermuntert ihn: „Die größte Demokratie der Welt: ein beschissener Witz“. DER für Balram eine Chance ist. Eine widerliche Chance.

„Die Zukunft gehört dem gelben und dem braunen Mann“: Wenn der Film startet, hat Balram es geschafft. Hat sich vom krauchenden Kaninchen zum weißen Tiger gemausert. „Männer, die im Licht geboren werden wie mein Herr, können sich entscheiden; Männer, die im Käfig geboren werden, haben diese Wahl nicht“. Sie können sich diese Wahl vielleicht erobern. Vielleicht. Manchmal. Möglicherweise. Der Preis dafür allerdings ist wie das indische System: Wenn Du „herrschen“ willst, arrangiere dich mit Gewalt, Rebellion, Korruption. Ohne Skrupel. Um der Armutsfalle zu entkommen. Das Erfolgsziel: Reichtum und Macht. Haben. Ausüben. Benutzen. Wir beginnen mit diesem Film im Jahr 2010. Es ist der Vorabend des Besuchs des chinesischen Premierministers Wen Jiabao in Indien. Balram (ADARSH GOURAV) verfasst gerade eine E-Mail an den chinesischen Gast, in der er um ein Treffen bittet und dabei zugleich seine Lebensgeschichte auflistet. Mit dem Fazit: „Aber ist es nicht wahrscheinlich, dass jeder, der in dieser Welt etwas zählt, inklusive unserem Premierminister (und inklusive Ihnen, Mr. Jiabao) jemanden auf seinem Weg nach oben getötet hat? Töte genügend Menschen und sie werden für Dich Bronzestatuen neben dem Parlamentsgebäude in Delhi errichten – aber das ist Ehre und darauf bin ich nicht aus. Alles was ich wollte war die Chance, ein Mann zu sein und dafür war ein Mord ausreichend“. Die elende Befreiung.

Das Ensemble – vorzüglich. Der Solist ADARSH „Balram“ GOURAV  – eine lächelnde Wucht. Die angepeilte bedrückende „Hauseigene“ indische Atmosphäre – exzellent. In diesen Film einzutauchen bedeutet, sich mit dem beißenden Spott über die widersprüchlichen Verhältnisse/Zustände in Indien zu verständigen. Andauernd wird von Regeln gefaselt und von mächtigen geldgierigen Männern entscheidendes „getan“, um gleich danach mit Intrigen, Falschheiten und vor allem Korruption konfrontiert zu werden. „DER WEIßE TIGER“ oder: Das „amerikanische Indien“: Wer Geld hat, bestimmt. Feudalistisch. Worüber, was immer, überhaupt. Ein meisterlicher Gigant von Film, der natürlich vorab, also vor Netflix, erst einmal ins Kino gehört hätte.  (= 5 PÖNIs).

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