VICTORIA

PÖNIs: (5/5)

„VICTORIA“ von Sebastian Schipper (Co-B; Co-Produzent + R; D 2014; Co-B: Olivia Neergaard-Holm, Eike Frederik Schulz; K: STURLA BRANDTH GROVLEN; M: Nils Oliver Frahm; 140 Minuten; deutscher Kino-Start: 11.06.2015); dass FILM heutzutage noch wirklich etwas Insgesamt-Neues hervorzubringen vermag, galt eigentlich als unwahrscheinlich. Bis dieser phantastische Alptraum von Noir-Movie auf der diesjährigen Berlinale auftauchte und klar war: Er wird Generationen von innovativen Filmemachern weltweit (und hierzulande?) Mut machen. Hier anzuknüpfen. Etwas zu wagen. Neue Ausdrucksmittel auszuprobieren. Einfach Lust haben, „Irres“ zu probieren.

Für mich ist „Victoria“ ein Gigant von Mut, Frechheit, Anarcho-Show und Zuschauer-Kontakt. Um Schubladen zu bedienen: Wenn „Außer Atem“, einst von Jean-Luc Godard erfunden, auf Quentin-Charisma und Tarantino-Pulp-Klima trifft. SEBASTIAN SCHIPPER, Hannoveraner des Jahrgangs 1968, hat den wohl ungeheuerlichsten, tollsten, schrägsten, heißesten Hipp-Film der letzten Jahre geschaffen. Ein Film wie eine GUTE Droge. Mit einem nur 14-seitigen Skript! Adrenalin-pur. Spürbar. Nachvollziehbar. Empfangbar. „Wir hatten eine hirnrissige Ladung von übersteigertem Selbstbewusstsein“, verkündete er bei der Berlinale-Pressekonferenz. Berlinale-Jury-Präsident, Darren Aronofsky, war zum Betriebsschluss von „Victoria“ schwer beeindruckt: „Dieser Film hat sich in meinem Kopf festgesetzt“.

Und so wird es sicherlich nicht nur ihm gehen: Einmal gesehen, immer im Kopf. BERLIN. Dieses pulsierende, imponierende Gebiet. Mit dem dauerhaften Neu-Anfang. Seit die teilende Mauer verschwunden ist. BERLIN = angesagte Bewegung, dauer-nervös, tägliche 24 Stunden Unruhe. Sie sind jung. Nennen sich Sonne, Boxer, Blinker, Fuß. Etwas angeberische, etwas durchgeknallte, etwas über-taff angehauchte Nacht-Boys. Vom Kreuzberger Kiez. Man lärmt herum. In einem Techno-Club. Zu später Nacht-, zu früher Morgen-Stunde. Hey, was machst du. Fragen sie Victoria (LAIA COSTA). Die junge Spanierin. Die gerade solo abgetanzt hat. Und nach Hause will. Wollen wir nicht noch etwas zusammenbleiben. Wir Zusehenden bekommen dieses komische Gefühl von Bekloppt-Sein, Alpha-Getue und Bedrohlichkeit. Verbunden mit einem (noch) nicht zu definierenden Charme-Geruch. Victoria bleibt locker. Ist cool. Aufgeschlossen. Neugierig. Man palavert, geht und fährt ein bisschen hin und her, versammelt sich auf einem Hochhausdach. Und plötzlich ist er zu spüren: Dieser Sog, in den man hineingerät. Sich gerne hineinfallen lässt. Und man aus dem Bauklötzer-Jubel-Staunen gar nicht mehr herauskommt. Von wegen: Hier geschieht tatsächlich was. Bildlich, emotional, innerlich. Marke: Extrem-WIE. In der Optik. Die zum faszinierenden „Einfänger“ wird. Dran bleibt. Weil: Der Film „Victoria“ IST IN E I N E R EINZIGEN EINSTELLUNG GEDREHT. Unglaublich. Sensationell. Ohne Schnitt, Komma, Punkt. Von hier nach dort. Ununterbrochen. Das vibrierende Protokoll einer Nacht. In diesem Neon-Moloch Berlin. Mit herrlich tückischen, verblüffenden, atemlosen Bewegungen. Auffang-Stationen. Als euphorischer Tanz. Geruchsintensiv. Fiebrig. Gelassen. Zwischen hysterisch und Moll. Eben noch die große Fresse, jetzt das Durchatmen. Mit aufkommenden Gefühlen. Zwischen Sonne (FREDERICK LAU) und Victoria. Bevor es zum brachialen Kriminalfall wechselt. In dem sämtliche Beteiligte ihre jugendliche Unschuld endgültig verlieren. Werden.

Anfangs, da war der Weg noch unentschlossen. Unsicher. Für Die-Da-Oben wie für uns Zuschauende. Was ist und soll das, wohin wird diese Nacht-Reise gehen, wird sie nicht doch die eingefahrenen Stänker-Wege beschreiten, à la Girl meets unorthodoxe Boys und dann wird schon irgendwann, irgendwas „Übliches“ passieren. Als junger, wütender Rotz verkauft. Die aufbegehrende Jugend, die verständnislosen Erwachsenen. So was. In der Art. Abschminken. Aber auch ALLES abschminken. „Victoria“ ist ein Experiment, ohne als solches – trocken, theoretisch – zu wirken. Das völlige Gegenteil kommt ‘rüber: Ein völlig verblüffendes, radikales, besonnenes, dramatisches, couragiertes, raues Road-Movie in den Erschöpfungsgrenzen von Berlin: Straßen, Dächer, Cafés, Autos. Der Spätkauf. Die Tiefgarage. Die Bank. Das Hotel. Die Straße. In der Früh-Sonne.

Im Protokoll zum Film heißt es: Dreimal wurde „geprobt“. An drei Sonntagen. Zwischen 4:30 Uhr und 7 Uhr. Der dritte Durchlauf wurde der Film.

„Kurz nach 4:30 Uhr am 27. April 2014 starteten wir die Kamera in einem von uns gebauten Club. Und nach über 2 Stunden und 20 Minuten, nachdem wir durch 22 Motive gelaufen, gerannt, geschlichen und geklettert sind, vorbei an 150 Komparsen, die von 6 Regie-Assistenten geführt worden waren, drei Ton-Crews den sieben Schauspielern in präzise eingeübter Rotation gefolgt sind und wir mehrere Situationen, in denen nicht informierte Passanten uns beinahe den Film ruinierten, glimpflich überstanden hatten, war es kurz vor 7 Uhr, als LAIA COSTA aus unserem letzten Motiv trat und ein von oben bis unten durchgeschwitzter STURLA BRANDTH GROVLEN, der aussah, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen, langsam die Kamera sinken ließ. Sturla sah nicht nur so aus: Er hatte gerade einen Marathon hinter sich. So wie wir alle“ (Director’s Note, Sebastian Schipper).

MAX MAUFF (Fuß), BURAK YIGIT (Blinker), FRANZ ROGOWSKI (Boxer) sowie FREDERICK LAU (Sonne) und LAIA COSTA als Titelheldin überragen als Ensemble. Kriegen bei dieser Dauer-Interpretation Körper-Haltungen, Gestik, Sprache, „Geräusche“, mimisch und mit starker Präsenz großartig hin. Im Radau, in der Verzweiflung wie auch ganz leise. Dem hiesigen „Belmondo“ Frederick Lau, der seit vielen Jahren in deutschen TV- wie Kinofilmen (sehr) oft (sehr) vielschichtig überzeugte („Die Welle“; „Tod den Hippies, es lebe der Punk!“), würde man liebend gerne eine Begegnung mit Quentin Tarantino wünschen. DER hätte mit Sicherheit nach Christoph Waltz einen zweiten deutschen Helden auf seiner ständigen Besetzungsliste. Und „Sonne“ FREDERICK LAU würde garantiert zum internationalen Star mutieren.

Das norwegische Kamera-Ass STURLA BRANDTH GROVLEN hat für diesen phänomenalen Meisterlauf alle Preise der Film-Welt verdient. Regisseur SEBASTIAN SCHIPPER trifft mit seinem (nach „Absolute Giganten“/1999; „Ein Freund von mir“/2006; „Mitte Ende August“/200) vierten Spielfilm ins Kino-Volle. „Victoria“ ist ein sensationelles cineastisches Wagnis mit explosiver Dauer- und immenser Nachhall-Wirkung. KINO in einer völlig neuen Form und Sprache: phantastisch. Phänomenal. Brillant (= 5 PÖNIs).

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