PÖNIs: (5/5)
„DAS VERHÖR“ von Claude Miller (Co-B + R; Fr 1981; Co-B: Jean Herman, Michael Audiard; nach dem Roman „Gehirnwäsche“ von John William Wainwright/1979; K: Bruno Nuytten; M: Georges Delerue; 86 Minuten; deutscher Kino-Start: 18.02.1982; s. auch Schauspieler-INTERVIEW mit Lino Ventura).
Innerhalb der Informationsschau der Berlinale und noch während der Berliner Filmfesttage in unseren Kinos, läuft ein französischer Film an, der schon jetzt mit Fug und Recht als einer der Höhepunkte diesen Jahres bezeichnet werden kann. Und das, obwohl er ohne großen Aufwand und ohne laute Action-Szenen auskommt und in nur einer einzigen Kulisse angesiedelt ist.
Eine abgeschlossene Welt. Der Raum in einem Polizeirevier. Ein Büro. Mit allem versehen, was so ein Zimmer enthalten muss. Es ist warm hier drinnen. Drei Personen halten sich hier auf. Zwei Polizeibeamte, ein Bürger. Es ist Silvesternacht, 21 Uhr. Von gegenüber dringen manchmal Geräusche einer ausgelassenen, fröhlichen Stimmung durch. Die Honorationen der kleinen französischen Stadt am Meer bereiten sich auf das alljährliche gesellschaftliche Großereignis vor: die Silvesterfeier. Vielleicht wären Inspektor Antoine Gallien (LINO VENTURA) und sein jüngerer Kollege, der Inspektor Belmont (GUY MARCHAND), auch gerne dabei, genau wissen wir das nicht. Aber sie haben dafür jetzt keine Zeit. Sie haben ihren Job zu tun. Maitre Jerome Martinaud (MICHEL SERRAULT) sitzt vor ihnen, der Zeuge in zwei grausigen Mordfällen. Zwei Kinder der Region sind innerhalb kürzester Zeit vergewaltigt und erwürgt worden, zwei kleine Mädchen. Natürlich hat das in der Gemeinde Aufsehen erregt. Die “Sache“ bedarf der raschen und vollständigen Aufklärung, der Mörder, diese Bestie, muss gefunden und überführt werden. Gallien und Belmont sind auf einer Spur, kommen aber nicht voran. Maitre Martinaud soll ihnen weiterhelfen. Er ist schließlich Zeuge, vielleicht der wichtigste sogar. Er fand eines der Mädchen, und nach der zweiten Tat entdeckte man in der Nähe seinen Wagen. Wirklich, ein wichtiger Zeuge also. Aber … nur Zeuge? Gallien sind echte Zweifel gekommen. Immer und immer wieder hat er sich die Akten vorgenommen, hat die Fakten verglichen, die Zeugenaussagen, die persönlichen Umstände, hat im Leben der beiden Kinder nach Anhaltspunkten gesucht, und ihm sind Zweifel gekommen. Zweifel, dass es sich bei Monsieur wirklich nur um einen Zeugen handelt. Er hat Indizien gefunden, die dafür sprechen, dass der angeblich so rechtschaffende, wortgewandte Herr Notar mehr als nur der zufällige Zuschauer ist, für den er sich ausgibt.
Nun sind sie also versammelt, in diesem Büro, an diesem Silvesterabend, wo doch um sie herum ein so ausgelassenes Klima herrscht. Und sie müssen sich mit Mord befassen. Mit zweien, um es präzise auszudrücken. Und um Präzision geht es Martinaud, dem gut gekleideten, gut aussehenden Zivilisten um die fünfzig, der natürlich sehr schnell mitbekommt, was um ihn herum passiert, was “die“ mit ihm vorhaben, worauf Gallien und Belmont ‘rauswollen. Aber ist er tatsächlich das Unschuldslamm, ist er nur, wieder mal, eines jener Opfer unseriöser Polizeimethoden, von denen die Zeitungen ab und an berichten? Weil man hier ganz einfach einen Schuldigen braucht? Es fällt verdammt schwer, die Sympathien zu verteilen. Gallien ist keineswegs der üble Bulle mit der schnellen Hand und den voreiligen Schlüssen. Im Gegenteil, er ist bemüht, höflich, ja fast manchmal kameradschaftlich, lässt aber nie einen Zweifel darüber aufkommen, dass er noch in dieser Nacht alles wissen will. Schuldig oder unschuldig, das soll jetzt, das muss jetzt bald feststehen. Gallien kann seine emotionale Anteilnahme bei diesem Fall natürlich nicht leugnen, aber man muss ihm zubilligen, dass seine Mittel und Methoden nie unfair sind. Raubeinig und schon mal ausfallend, ja. Kollege Belmont dagegen ist da schon von ganz anderer Mentalität. Ein Hitzkopf, rüde, rotzig, frei heraus mit seiner Ansicht, der war‘s, am besten eins in die Fresse und Geständnis. Basta. Mehr Leute wie ihn, und wie schnell hätten wir weniger Verbrechen und Verbrecher. Lauten seine „Signale“. Ein ekliger Typ gewiss, aber ist es nicht Martinaud selbst, der ihn immer wieder auf die Palme bringt? Der ihn schließlich soweit bringt, reizt, dass er Hand an ihn legt. Um ihn “weich“ zu prügeln für ein Geständnis. Martinaud, immer wieder Martinaud. Wie soll man sich ein klares Bild von ihm verschaffen?
In anderen Filmen ist einer immer das Opfer und bekommt unsere Sympathie und Unterstützung. Wir können uns mit einem “Opfer“ gut identifizieren. Aber hier? Der ist doch nicht die Unschuld in Person? Wieso sagt er nicht frei heraus, was er alles weiß und wie er über Anschuldigungen von Gallien wirklich denkt? Allerdings, er antwortet doch, gewiss, und wie, bauernschlau, ausschweifend, dann wieder vollkommen logisch. Also? Sind es nicht die anderen, die ihm nicht richtig zuhören, die nicht bereit sind, seine Argumente zu begreifen? Gallien kommt ins Schwitzen, und wir auch. Dieses Frage- und Antwortspiel scheint zu verwässern, Martinaud bekommt immer mehr die Oberhand, piesackt seine beiden Kontrahenten ein ums andere Mal ob ihrer kleinkarierten Denkweise: „Meine Intelligenz und meine äußere Erscheinung sind höchst mittelmäßig, und die Mittelmäßigen haben sich abzufinden mit dem Erfolg von Ausnahme-Menschen. Sie applaudieren den begabtesten Aufsteigern, den Champions, aber der Erfolg ihresgleichen, der erbittert sie. Das trifft sie wie eine Ungerechtigkeit“.
Verdammt nochmal, Augenwischerei, faule Ausreden, Hinhaltetaktik. “Sie sind ein Verwirrungsstifter erster Ordnung“, nörgelt Gallien ganz richtig herum. Weil er die Rollen vertauscht sieht. Wer wird hier eigentlich verhört? Wer steht unter Verdacht? Und was haben denn bloß die häuslichen Verhältnisse von Monsieur mit der Sache zu tun? Die kaputte Ehe? Das leere Nebeneinander von Madame und Monsieur? Aber … andererseits, der Chef von Gallien, der sich inmitten des Silvestertrubels Bericht erstatten lässt, schiebt dazu ein paar Gedanken ein, die sich durchaus für diesen Fall anwenden lassen: “Ich habe festgestellt, dass die Mehrzahl der sexuell Abartigen vom Intellekt weit über dem Durchschnitt stehen. Deshalb sind sie auch so schwer zu überführen“.
Es geht in die letzte Runde. Die Beteiligten wirken langsam erschöpft, aber der Ausgang ist noch völlig ungewiss. Es ist wie bei einem 15 Runden-Box-Kampf. Ein Fight mit Worten und Tricks. Und immer noch steht es unentschieden. Jeder hatte während der hinter uns liegenden, zermürbenden Konfrontation Vorteile, konnte diese aber nie entscheidend für sich ausnutzen. Und Martinaud teilt weiter aus: “Wenn ein Kanake oder Neger kleine Mädchen vergewaltigt, ist es ein Fall wie jeder andere. Wenn dagegen ich, Maitre Martinaud, Notar, es tue, dann ist das d i e Chance in der Karriere eines Bullen“. Dann der plötzliche K.O., herbeigeführt durch die Frau von Martinaud (ROMY SCHNEIDER). Sie sorgt für klare Verhältnisse. Mein Mann ist schuldig, und hier ist der Beweis. Endlich. Alles klar. Jerome Martinaud hat verloren. Er gesteht. Der Fall ist geklärt, die Gerechtigkeit hat doch noch und wieder einmal triumphiert, und die Überstunden der beiden Beamten haben sich gelohnt.
Scheiße. Denn es passiert etwas völlig Unvorhersehbares. Aber nicht etwa so dämlich, wie das in billigen Dutzendkrimis passiert, so mit der plötzlichen Eingebung des tapferen Polizeimannes, oder dem Übersehen von einer ganz klitzekleinen, aber doch so furchtbar entscheidenden Nebensächlichkeit und gerade die … nein. Ein saublöder Zufall, wirklich und wahrhaftig, glaubwürdig – und alles ist umgeworfen. Das trifft. Und wirkt. Es ist der 1. Januar, 7 Uhr morgens.
Was soll man sagen über einen Film, der das erste Mal nach genau 42 Minuten seinen Standort wechselt, um Beteiligte wie Zuschauer für einen kurzen Moment Atem holen zu lassen? Der sich aber sonst fast die ganze Zeit nur in einem Raum aufhält, in dem drei Leute sich mit Worten und Gesten duellieren? Und der einen fortwährend so unter Spannung hält, dass man die Armbanduhr, den Nachbarn, die Autogeräusche von draußen, einfach alles vergisst? Dass man den Eindruck gewinnt, hautnah am Geschehen zu sein, Anteil zu nehmen, als säße man daneben, und die Chronik dieser Nacht zu schreiben? Dies ist doch wohl Klasse-KINO. Das Beste, was man sich vorstellen kann. Es unterhält ganz vorzüglich, reizt die Sinne, beschäftigt andauernd Kopf und Bauch. Und jetzt müsste man eigentlich noch so viel sagen: Zu dieser fantastisch-unauffälligen Kamera, die nicht protzt und doch so viel Aufregendes vermittelt, und wie hier sorgsam mit Licht und Farben umgegangen wurde, in dieser Abgeschiedenheit und Enge, und wie hervorragend die Darsteller spielen, allen voran Michel Serrault, die Tunte aus “Ein Käfig voller Narren“, der mit einer Akribie sondergleichen seinen stolzen, geschundenen, tückischen Maitre Martinaud vorführt.
Aber davon genug, vielmehr nur noch der Hinweis auf unsere Nachbarn, die Franzosen. Die haben soeben die überragende Qualität dieses Meisterwerkes der psychologischen Spannungskunst unterstrichen. Ihre Kritiker haben “Garde à vue“, so der Originaltitel, den ‘Preis der französischen Filmkritik‘ für 1981 (gemeinsam mit Bertrand Taverniers Film “Der Saustall“, der ebenfalls auf der Infoschau der Berlinale gezeigt wird) zuerkannt, und bei den “César“-Nominierungen für 1982, dem französischen “Oscar“-Gegenstück, fielen gleich acht für dieses exzellente kriminalistische Puzzle ab. Voilà… (= 5 PÖNIs).