VENEZIANISCHE FREUNDSCHAFT

VENEZIANISCHE FREUNDSCHAFT“ von Andrea Segre (Co-B + R; It/Fr 2011; Co-B: Marco Pettenello; K: Luca Bigazzi; M: Francois Couturier; 98 Minuten; Start D: 05.12.2013); eine Festival-Perle erreicht uns, prämiert z.B. in London („Bester Erstlingsfilm“), Venedig („Prix Rossellini“), Valencia („Großer Preis – Preis der Jury“) und Luxemburg („LUX- Preis des Europäischen Parlaments“). Der deutsche Titel ist ein wenig verführerisch, ist doch „Io sono Li“ („Shun Li und der Poet“) nicht „direkt“ in Venedig angesiedelt, sondern hauptsächlich in Chioggia, einer kleinen Stadt in der Region Venetien, an der Südspitze der Lagune. Die auf Holzpfählen errichtete Stadt liegt in der Provinz Venedig. Trägt den Beinamen „Klein-Venedig“ und ist über eine Steinbrücke mit dem Festland verbunden.

Co-Autor und Regisseur ANDREA SEGRE wuchs in Chioggia auf und ist nicht nur Drehbuch-Autor und Regisseur von Spiel- und Dokumentarfilmen für Kino und Fernsehen, sondern auch studierter Sozialforscher. „Der Ausgangspunkt dieses Films ist das Gesicht einer jungen Frau, die Shun Li sein könnte. Es war in einer venezianischen ´Osteria`, die Art von Ort, die seit Generationen von den Fischern der Gegend besucht wird. Die Erinnerung an dieses Gesicht, so unpassend und fremd an diesem Ort, hat mich nicht mehr losgelassen. Während ich diese junge Frau betrachtete, wurden ihre Vergangenheit, ihre Geschichte, der Weg, den sie bis dahin zurückgelegt hatte, Quelle der Fiktion. Welche Art von Beziehungen könnte sie in einer Region wie meiner geknüpft haben, einer Region, die so wenig an Veränderungen gewöhnt war?“ (Andrea Segre im Presseheft).

Shun Li (ZHAO TAO) ist Näherin für eine chinesische Organisation. Die sie in einer Fabrik in Rom untergebracht hat. Wenn sie ihre Schulden für das Hierher- und Unterbringen abbezahlt hat, wird ihr achtjähriger Sohn aus China „nachgebracht“. Weil sie ihren Job gut macht, wird sie nach Chioggia versetzt. Dort hat man ein altes Café gekauft und benötigt eine Bedienung. Mit ihrem gebrochenen Italienisch bedient sie fortan die einheimischen und hier fest verwurzelten Fischer in deren Stammpinte. Diese wollen ihren Augen nicht trauen, als plötzlich die kleine Chinesin hinter dem Tresen steht. In ihrem zweiten Zuhause. Natürlich sind die „Konflikte der Kulturen“ programmiert. Es herrscht Misstrauen gegenüber „diesem Gesicht“. Einzig Bepi (RADE SERBEDZIJA) kann mit dieser Engstirnigkeit gegenüber der neuen Außenseiterin nichts anfangen. Er war einst selbst als jugoslawischer Migrant vor mehr als 30 Jahren hierhergekommen. Bepi, „der Poet“, der gern spontane Reime dichtet, kommt mit Shun Li über deren Interesse an der Poesie ins Gespräch. Man freundet sich an. Was „das Umfeld“, sowohl die einheimischen Kollegen von ihm als auch ihre Chefs, nicht billigen. Wollen. „Solch“ eine Freundschaft…, auf keinen Fall.

Wenn du „anders“ aussiehst, bist du – für Länger oder für Immer – nicht willkommen. Menschen müssen „gleich“ sein. Äußerlich wie innerlich. Eine „Vermischung“ der Kulturen ist keinesfalls erwünscht. Und wenn dann doch „so eine Fremde“ in dieser alteingesessenen Ecke der Welt auftaucht, entsteht Unruhe. Gar Zorn. Auch Hass. WARUM? WESHALB? WAS SOLL DAS? Es ist menschlicher irrationaler Unfug. Zeigt und sagt dieser einfühlsame Film. In dessen melancholischer Begleitung auch die Landschaft „spricht“. Das Wasser, der viele Nebel, diese ziemlich kühlen Grautöne der Natur. Stimmungen, während zwei Seelenverwandte eigentlich „einfach nur so“ leben wollen. Hier, an diesem unwirtlichen Ort. Wo sogleich eine mächtige „chinesische Invasion“ vermutet, propagiert wird. Also darf nicht sein was es ist – ein vernünftiges Miteinander. Beispielsweise. „Romantik“ in Venedig – von wegen. Sie, die Sklavin, ist eine profitable Ware. Er, der Inzwischen- Einheimische, kann sich auch nicht gegen Alle stellen. Globaler Kapitalismus und rassistische Anfeindungen haben gegen das Normal-Unmenschliche heute keine Chance mehr. Die Übermacht der Unkultur dominiert. So scheint es jedenfalls. Im Großen. Aber nicht im Ganzen.

DIESE GROSSEN ausdrucksstarken GESICHTER: Die chinesische Schauspielerin TAO ZHAO arbeitet „vorsichtig“, behutsam mit ihrer Shun Li. Wirkt ebenso verletzlich wie unaufdringlich empfindsam. Tao Zhao gewann für ihren berührenden Part den „David di Donatello“-Preis, den italienischen „Oscar“, als „Beste Hauptdarstellerin“. IHN kennen wir. ER wird immer von Hollywood besetzt, wenn es darum geht, einen osteuropäischen Schurken vorzuführen: Der serbisch-kroatische Hüne RADE SERBEDZIJA, 65, wohlbekannt zuletzt aus den Filmen „96 Hours – Taken 2“ (als Liam Neeson-Gegenspieler) und in dem Angelina Jolie-Regiefilm „Im Land von Blut und Honig“. Hier kann der Schauspieler, Musiker und Theaterkünstler als multikultureller Fischer Bepi seine andere Seite ausspielen. Als ewiger „Anderer“, der zwar hier sein Zuhause gefunden hat, aber „richtig“, wirklich, nie angekommen ist, wirkt er grandios. Knorrig wie zärtlich. Zäh wie still. Eine herrliche Überraschung, diesen Klischee-Bösewicht aus vielen Unterhaltungskrachern einmal ganz wunderbar anders, gefühls- „umgekehrt“, erleben und genießen zu können. Beide Akteure adeln einen bedeutungsprächtigen klugen Stoff wie einen hinreißend schönen, sensiblen Film (= 4 PÖNIs).

Teilen mit: