TALENTPROBE

TALENTPROBE“ von Peter Goedel (B, Schnitt+R; D 1979; 119 Minuten; Start D: 06.03.1981)
Schwarze Hose, pikobello Bügelfalte, weißer Rollkragenpullover, weißes ‚Dinner‘-Jacket, schwarze Schuhe, saubere Fönfrisur mit gradem Scheitel. Die Sklaven von heute machen sich fein, bevor sie zur „Hinrichtung“ schreiten. Einer freiwilligen. Die Arena von einst ist heute die Bühne. Er findet einen Pfennig. „Ein Glückspfennig, hoffentlich bringt er Glück“, salbt der Conférencier Udo, ein mittelgroßer Anfangfünfziger mit schütterem Haar und flinker Zunge. „Gehe ich richtig in der Annahme, Karlheinz Wandelbein, das ist kein Künstlername, das ist ein echter, ja?“ Äh ja. Auch wieder ein Maler von Beruf, wir haben heute sehr viele Handwerker, wie sie schon festgestellt haben, meine Damen und Herren. Er singt aus Bielefeld kommend unter der Nummer 11 zunächst ein italienisches Lied. Kwando Mia More. Jetzt weiß ich aber den zweiten Titel nicht?“ „Ihr Name war Carmen“. „Ihr Name war Carmen. Dann wird’s also spanisch. Aber nimm‘ die Hand aus der Tasche, der liebe Gott sieht alles, ja? Hähä. Fein“.

Nicht nur der liebe Gott verfolgt an diesem Abend des 27.Juli 1979 das Geschehen im Rheinpark bei Köln, sondern auch vier Kamera- und drei Ton-Teams, die mit Wissen und Genehmigung aller Beteiligten (soweit die Zustimmung erforderlich ist) unter der Oberleitung von Peter Goedel, TV-Dokumentarfilmer, das Geschehen um die 5018. öffentliche Veranstaltung „Talentprobe“ („in 27 Jahren“) einzufangen versuchen. Der Film setzt aber erst einmal am Vormittag ein, als die Beteiligten eintreffen.

Rituale wie beim Arbeitsamt: Name, Vorname, Alter, Beruf („Schülerin könnte man sagen“), der Wohnort. Udo Werner hat alles im Griff, er ist der Boss, über und durch ihn läuft alles. Er hämmert die Daten auf der Schreibmaschine zusammen, mal einen flauen Spruch einwerfend, mal ein falsches Lächeln aufsetzend. Er hat keinerlei Schwierigkeiten mit den jungen Leuten, die sich gemeldet haben, um am Abend vor „immerhin gut 4000 Menschen hier“ Proben ihrer künstlerischen, sprich stimmlichen Talente abzugeben. Drei Lieder-Titel hatten sie auf der Anmeldung angegeben, für zwei müssen sie sich nun entscheiden. Es herrscht der Trivial-Wunsch vor: „Michael“, „Josie, Josie“ (oder so ähnlich), „Bei mir biste schön“, „Sunday Girl“. „Tonarten kennen Sie?“, fragt Udo, der auch später die Ansage übernehmen wird. „Ja, muss wohl B sein, so genau weiß ich’s nicht“. Noten haben die wenigsten mit. Im Raum 5 wartet die die Hans-Barani-Combo auf die Talente, um sie und sich einzustimmen. Hans Barani selber, ein beleibter, temperamentvoller Dynamiker (und Schlagzeuger, wie sich dann rausstellen soll) um die Mitteldreißig, hat die zeitlich begrenzten Proben voll im Griff: F-Dur, ist doch klar. Gustav spiel doch mal. – Gustav auf zwei…“. Zeitdruck und Routine auf der einen Seite, Selbstbewußtsein, Durchhaltewillen, Unsicherheit, die Hoffnung auf der anderen. Nach rund eine Stunde ist (im Film) das Vorspiel zu Ende.

Es geht in den Ring. Die Meute wartet schon gierig. Von weitem ist ihr Johlen, ihr Grölen, Pfeifen, Brüllen, ihr Toben zu hören. Und dann auch hier der Ablauf in festgelegtem Ritual: Udo immer vorne weg mit der Ansage, in seinem Schlepptau die Nummern eins bis zwölf. Dazu dabei, daneben, dazwischen Blicke mit Kamera und (Dolby-) Ton in die (vor allem jugendliche) Menge. Andauernd die Lärm-Chöre: Aufhören. Pausenlos die Pfiffe, das Ausbuhen, abschätzende Gesten in Richtung Bühne, das Dazwischen brüllen, Trillerpfeifen werden dagegen gehalten, Hupen, Trompeten, man sich gut vorbereitet.

Die „da oben“ haben keine Chance, haben nie eine gehabt. Schon vom ersten Moment an nicht, als sie das Papier ausfüllten, das ihre Träume, ihre Hoffnungen, ihre Wünsche verwirklichen helfen sollte. Sie sind Marionetten in einem grausamen, ekligen Spiel bei dem die einen dafür bezahlen, dass sie sich über andere lustig machen können, sie „fertig“ machen können, sich auf Kosten anderer mal richtig austoben können. Die menschliche Denunziation feiert fröhlich Triumphe. Aber wie weit sind die Opfer wirklich „Opfer“? Sie sind ja freiwillig dabei, niemand hat sie dazu gezwungen. Was waren ihre Beweggründe? Wieso lassen sie sich freiwillig so fertigmachen? Wo bleibt ihr Stolz, ihre Würde? Warum überschätzen sich die meisten dermaßen? Wodurch sind sie animiert worden, sich einer derartigen „Vernichtung“ auszuliefern? Antworten laufen dazu nur im Kopf des Betrachters herum, Vermutungen, Meinungen, Möglichkeiten. Der Film sagt wenig dazu. irgendwann mittendrin deutet Kandidat Nummer 9, Wilfried Henne aus dem Westerwald, mal an, was in ihm vorgeht: „Einmal im Leben muss man Glück haben“, heißt es da. „Als Elvis gestorben war, hab‘ ich mir gedacht, du kannst das auch mal probieren…“.

Inzwischen sind Transparente ausgerollt worden. Tenor-Texte wie Buh, Bedauernswert, Unsere Note: 6, Das war ja grausam und Äußerst schwach werden sichtbar. Aber die „jungen Nachwuchskünstler“, wie sie Udo Werner anpreist, halten durch, hören nicht etwa auf und hauen ab, sondern bleiben dabei. Spielen in ihrer Rolle voll mit. Und irgendwann spürt man diesen spaßigen Terror auch, und er steckt an. Ich sitze alleine im Kino und frage mich wie das wohl sein wird, wenn Publikum dabei ist? Wie werden die wohl reagieren? In Hof waren sie genauso eine grölende Meute wie die auf der Leinwand.

Eine gefährliche Sache ist der Film, weil er nicht unternimmt, um den Zündstoff, den er in Gang gesetzt hat, zu bremsen oder umzuleiten. Er enthält sich jeden Kommentars, zeigt immer wieder nur in Großaufnahme die Gesichter, aber lässt die Beteiligten nur unzureichend zu Wort kommen, macht es sich im Grunde in der Position des Nur-Beobachters äußerst bequem, fängt kein Umfeld, keine Hintergründe ein, klopft das Geschehen nicht in seiner (gesellschaftlichen und sozialen) Gesamtheit ab. Was bei dieser Themengröße unbedingt erforderlich gewesen wäre. Ein einseitiger, schützender Kommentar wäre angebracht. Kein belehrender, kein verfälschender, keiner mit moralischem Fingerzeig, sondern ein politisch aufklärender, informierender aus der Sicht der Filmcrew. Das nicht getan zu haben, ist fahrlässig, macht den Film letztlich auch nur zu einem Spekulations-Moment, zwar sicherlich “nicht so gemeint“, aber eben so rüberkommend.

Die Kandidaten bleiben sämtlichst anonyme, manchmal
nette, manchmal reichlich “dämliche“ Hanswurste, für die Mitleid angebracht
ist, vielleicht, aber die eben auch gute Punktlieferanten für eine tolle Show sind. Eben auch im Kino. Ich weiß ja nichts über sie, finde kein Identitätsgefühl zu ihnen, komme
langsam in die gleiche Fahrbahn wie die damals vor der Bühne. Der Film schützt sie nicht, wo sie jetzt, noch mehr als an diesem Abend, Schutz bedürfen. Der Film benutzt sie letztlich, beutet sie aus, für eine Kino-Geschichte. In der Udo Werner, der altgediente Conférencier, zum Feindbild wird. Aber ist er das?
Ist er eine solche, grausig-miese, schmierige Type wirklich? Oder ist er nicht auch
nur im Grunde Marionette, Opfer wie die anderen?

Manchmal, in ganz wenigen, kurzen Augenblicken, ist die Kamera bei ihm, wenn er nicht herum tönen, nicht seine bescheuerten Sprüche loslassen braucht. Wenn er irgendwo herumsteht, das Gesicht ernst, bedrückt, abwesend da werden plötzlich für Sekunden andere
Gedanken ausgelöst. Bei denen es wichtig gewesen wäre, nachzuhaken. Wer steckt hier wirklich dahinter? Wer hat das wirklich arrangiert und zu welchem Zweck? Welchen Stellenwert hat‘ diese Veranstaltung überhaupt in der Branche? Zweimal werden
renommierte Plattenfirmen als Spender genannt. Wie sieht ihre Beteiligung hierbei aus? Was für ein Geschäft machen sie dabei? Und: wer hat hier überhaupt alles seine dreckigen Finger noch mit im Spiel?

Der engagierte Filmwelt“-Verleih sieht die Faszination bei diesem Horror. Seine tönende Ankündigung zur kinomäßigen „Talentprobe“: “12 Kandidaten handeln
nach dem Motto ‚Besser als Selbstmord‘. Die 4000 Besucher des Tanzbrunnens sind bestens auf die Zerreißprobe vorbereitet“. Toll, nicht wahr? Hört sich gut an und lässt sich prima verkaufen. 12 Opfer und 4000 Henker. Darunter allerdings auch Peter Goedel und sein Team.

Mir fällt ein, irgendwer hat mal gesagt, der schlimmste Feind des Menschen ist der Mensch. Man sollte ergänzen: egal ob mit oder ohne Kamera
(= 2 PÖNIs)

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