Meine DVD-Empfehlung gilt einem SEHR außergewöhnlichen neuen Film. Der im Vorjahr im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes lief und soeben seine deutsche Erstaufführung bzw. Erstveröffentlichung auf DVD hatte. Dabei handelt es sich um den amerikanischen Spielfilm
„SYNECDOCHE, NEW YORK“ von Charlie Kaufman (B, Co-Prod.+R; USA 2008; 116 Minuten; DVD-Veröffentlichung: 26.11.2009).
Es ist der Regie-Erstling des renommierten amerikanischen Drehbuch-Autoren CHARLIE KAUFMAN, geboren am 20. September 1958 in New York. Es ist sein Debüt-Spielfilm als Co-Produzent, als Drehbuch-Autor UND Regisseur. Kaufman hat an der „Tisch School of the Arts“ in New York studiert. Seine Karriere begann er als Autor für TV-Serien (wie z.B. „Ned and Stacy“ oder die „Dana Carvey Show“). In den Blickpunkt internationaler Aufmerksamkeit geriet Kaufman durch seine „speziellen“ Drehbücher für „spezielle“ Filme wie „BEING JOHN MALKOVICH“ („Oscar“-Nominierung/1999/von Spike Jonze), „Human Nature“ (2001/von Michel Gondry), „ADAPTION“ („Oscar“-Nominierung/2002/ von Spike Jonze); „Geständnisse – Confessions of a Dangerous Man“ (2002/von George Clooney) sowie „VERGISS MEIN NICHT!“ (2004/von Michel Gondry), wofür er den „Oscar“ für das „Beste adaptierte Drehbuch“ zugesprochen bekam.
In einem Interview mit der „Seattle Post“ erklärte Charlie Kaufmann 2004: „Für gewöhnlich liefert ein Drehbuchautor sein Skript ab und läßt sich dann nicht mehr blicken. Bei mir ist das nicht so. Ich möchte vom Anfang bis zum Ende beteiligt sein. Und diese Regisseure (Gondry; Jonze) wissen und respektieren dies“.
In seinem ersten eigenen Film befindet sich Kaufman, geographisch wie intellektuell, ganz in der Nähe zum heute 74jährigen New Yorker Stadtneurotiker WOODY ALLEN. „Ich glaube, von einem philosophischen Standpunkt aus gesehen, ist die Existenz ein Alptraum. Sie ist, wenn man ehrlich ist, eine schmerzhafte Angelegenheit. Man weiß, daß die Zeit vergeht. Und dann ist sie vorbei“, ließ Woody Allen Anfang Dezember in einem Interview mit dem „ZEIT MAGAZIN“ („Noch Fragen?“) verlauten.
Und offenbar so oder so ähnlich geht es Kaufman bzw. der von ihm erfundenen Filmfigur Caden Cotard. Doch zunächst – der Titel???: Im DUDEN steht:
„Synekdoche“; die; (griech.), SETZUNG DES ENGEREN BEGRIFFS FÜR DEN UMFASSENDEREN.
Im Pressetext zum Film heißt es: „Im Titel ist das englische Wort für Synekdoche eine rhetorische Figur (ein Tropus)“.
Bei der Recherche stieß ich auf folgende Deutung: „Es handelt sich um eine Synekdoche, wenn eine quantitative Teilung oder Zusammenfassung vorliegt. Dabei steht entweder ein Teil für sein Ganzes oder umgekehrt repräsentiert das Kollektiv ein Individuum. Eine Synekdoche hat eine integrierende Wirkung“. Verwirrend.
Caden Cotard (PHILIP SEYMOUR HOFFMAN) ist 40, verheiratet, eine Tochter. Der Theater-Direktor und Bühnen-Autor lebt im Jahre 2005 in New York und leidet. Vor allem an sich, mit der vergehenden Zeit, aber auch an vielem Irdischen. Wie „Krankheiten“. Caden Cotard ist ein Berufs-Leidender. Geworden. Ein Hypochonder. Der, als wir ihn kennenlernen, zuhauf die Ärzteschaft „besucht“: Orthopäde, Augenarzt, Neurologe, eine attraktive Psychologin, den Zahnarzt. Ergebnis: „Ich weiß nicht, was mit mir los ist“. Caden Cotard zeigt sich als hochgradiger Neurotiker, ein Grübler mit dem Hang zu ebensolchen Depressionen. Das stets „halbleere Glas“, denn: Sein Wunsch nach Geborgenheit und Sinn-Erfüllung, also Erlösung, wird noch mehr „gedämpft“, als ihn seine Frau mit Tochter in Richtung BERLIN verläßt. Um sich hier auszuprobieren, zu verwirklichen, „zu finden“. Als, buchstäblich wie wortwörtlich, KLEIN-Künstlerin. (Ihre Bilder sind dermaßen winzig, daß man zum Betrachten eine Zeitlupe benötigt).
Fortan entgleitet ihm das „normale“ Leben. Wir erleben die Zeit-Entwicklung, das fortschreitende Altern, eines „darüber“ erschütterten klugen Mannes. Mit sowohl körperlichen (Haut-)Deformationen wie sexuellen Neuerfahrungs-, sprich Beruhigungs-, sprich Bestätigungsversuchen, auf der täglichen Spurensuche mit den vielen Versuchserklärungen und Sinn-Deutungen, mit den ihn dabei begleitenden Normalitäten und Alltäglichkeiten, also den „Umständen“, wie er „riecht“, wie er „die Dinge“ erledigt/betrachtet, sozusagen von den körperlichen Ausscheidungen bis zu den wühlenden Gedanken, vom Saubermachen bis zu vermehrten Beerdigungsbesuchen, wie er zunächst, ganz konventionell, Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ inszeniert, ein Klassiker über die fatale Lebenskrise eines in die Jahre gekommenen Mannes. Dann aber erlaubt ihm ein Preis-Stipendium ein geradezu bombastisches Projekt anzugehen. Die Inszenierung des Lebens durch die Kunst. Bzw. umgekehrt. In einer riesigen Lagerhalle der Stadt New York, die so monumental aussieht, als hätte hier Spielberg einst „Jurassic Park“ gespielt, läßt er die Stadt, das heißt SEINE Stadt, seine Orte, Ecken, Straßen, Häuser, Wohnungen….., nachbauen um darin das Leben endgültig künstlerisch „in den Griff zu bekommen“, zu bannen, zu begreifen, zu erklären.
Motto: „Zu wissen, daß Du es nicht weißt, ist der erste Schritt, es zu wissen“. Die Zweitbesetzungen tauchen auf, die Schauspieler, die in SEINE FIGUREN schlüpfen. In SEIN DASEIN eintauchen. Seine Gefühle, seine Empfindungen, seine Erfahrungen. Seine Erklärungen. Identitätenwechsel. Das Spiel kann beginnen. Mit dem sinngemäßen Irgendwann-Satz: Wir sind Millionen von Menschen auf der Welt, und DIE sind keine Statisten, sondern sie spielen ALLE Hauptrollen und verdienen vor allem Respekt. Vorhang.
„SYNECDOCHE, NEW YORK“ ist die komplizierte, phantasievolle, schmerzhafte, komische, tragische Beschreibung von LEBEN. Von einem Leben. Der Ist-Zustand eines Intellektuellen, eines Philosophen. Eines Künstlers. Der leidet, weil er denkt. Viel denkt. Ausschließlich denkt. Und wegen DENKEN nicht „zu Potte“, also zu einem „richtigen“ (?) Leben kommt. Wie wir es kennen.?!? Der Film ist einfach wie praktisch nicht in den (Be-)Deutungsgriff zu bekommen. Ist man es sonst (bequem) gewohnt, Absicht, Figuren, Situationen schnell und sicher und glatt zu erkennen, bleibt man hier staunend/suchend/fragend „auf der Strecke“.
Eine Wühlarbeit, das ist „Synecdoche, New York“. Aber eine ständig spannende. Packende. Irritierende. Faszinierende. Erschöpfende. Was ist Fakt, was ist hier Traum, was ist hier wie gemeint, könnte wie gemeint sein? Kaufman bietet keine konkreten oder gar fertige „Lösungen“ an, wir können, wenn wir wollen, interpretieren. Schlüsse zu „unserem Universum“ zulassen oder auch nicht. Natürlich ist der Film eine Zumutung. Aber was für eine sinnliche, gedankliche, kreative, „verrückte“, nachhallende, spielerische, alberne, absurde, tragische??? Vielleicht bekloppte. Warum nicht? Alles denk-bar.
Ich hatte hieran großes Vergnügen. Spät in der Nacht, in totaler Ruhe. Der Film besitzt einen gedanklichen Sog, der tief wirkt. Mit ebenso lächerlichen wie kopfschüttelnden wie komischen wie tieftraurigen Gefühlen. Oder Gefühlsgestaltungen, um es tiefsinniger, also blöd zu formulieren. Er ist ein cineastischer wie magischer RIESE. Ebenso ungeheuerlich wie aufwühlend. Nach „Synecdoche, New York“ gleich wieder zur Tagesordnung überzugehen, ist kaum möglich.
Weil die Hochkaräter von Schauspieler GANZ TIEF ausatmen lassen. Natürlich, „Oscar“-Preisträger PHILIP SEYMOUR HOFFMAN, der neulich den exzentrischen Schriftsteller Truman CAPOTE so formidabel (in dem gleichnamigen Meisterwerk) darbot, daß es einem den Atem klaute, und der kürzlich als Star-DJ auf einem britischen Piratenschiff in „RADIO ROCK REVOLUTION“ so brillant-wüst und spezifisch-unterhaltsam auftrumpfte, hat Robert De Niro längst überholt. Er zählt mittlerweile zu den GANZ GROßEN im amerikanischen Kino, nähert sich einem Olymp-Heroen wie Orson Welles. Um ihn herum tummeln sich so wunderbare Mitspieler wie SAMANTHA MORTON („Elizabeth“), CATHERINE KEENER (die schon in „Capote“ seine Partnerin war und damals mit einer „Oscar“-Nominierung belobigt wurde); JENNIFER JASON LEIGH („Mrs. Parker und ihr lasterhafter Kreis“); die sensationelle EMILY WATSON („Breaking the Waves“) oder auch „Oscar“-Lady DIANNE WIEST (die für ihre Auftritte in den Woody-Allen-Filmen „Hannah und ihre Schwestern“ und „Bullets over Broadway“ jeweils mit der begehrten Trophäe ausgezeichnet wurde). Was für ein gigantisches Ensemble! Was für ein vibrierendes Spaß-Volk, spöttisch bemerkt.
Gleich zu Jahresanfang also harte Denk-Kost. Schwankend zwischen Euphorie und Lethargie. WAS soll man hier denken, fühlen, empfinden, mitnehmen? Gehen wir hier einem nihilistischen Magier auf den Leim? Oder stimmt doch „die Chemie“, die Neugier, die Sympathie, die man fühlt? Um Leben als Kunst bzw.umgekehrt? Was imitiert hier eigentlich was? DAS ist jetzt nicht im Kino zu interpretieren, zu erleben, sondern auf DVD. Film/Kino als energetisches Rätsel-Abenteuer der vielen Empfindungen, mit atmosphärischem Bitter-Seelen-Charme-Dampf und faszinierender Sinnhaftigkeit. Virtuell wie „real“. Und, wie gesagt – eine Synekdoche/Synecdoche ist eine rhetorische Figur. Von ganz und gar globalem Charakter.
Anbieter: „HMH“/Hamburg.