STOP MAKING SENSE

PÖNIs: (5/5)

Gastkritik von Mario Müller

„STOP MAKING SENSE“ von Jonathan Demme und Talking Heads (USA 1984; B: Jonathan Demme, Talking Heads; K: Jordan Cronenweth; M: Talking Heads; 88 Minuten; deutscher Kino-Start: 16.11.1984)

“Stop Making Sense… wahrscheinlich ein Horrorfilm oder sowas…” Die mittvierziger Berliner Kodderschnauzen hinter mir haben nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung, welcher Film heute hier am 21. Juni 2019 Open Air im Moabiter “Filmrauschpalast” in der Lehrter Straße gezeigt wird. Gleich wird ein junger Mann des unabhängigen Kiez-Kino-Vereins eine kurze Einführung geben und erklären, dass man extra für diese Vorführung eine original 35-mm-Kopie aus London hat einfliegen lassen, um das Erlebnis so authentisch wie möglich zu machen. Aber diese Einführung werden die Unwissenden hinter mir gar nicht mehr hören, denn nach gut einer halben Stunde des Wartens machen sie sich von dannen, ist ja eh gratis, “umsonst und draußen”, gehen wir woanders ein Bier zischen. Also ist es umso erstaunlicher, dass die Leute des 1991 gegründeten Vereins so viel Aufwand betrieben haben, um diesen laut “RollingStone” “besten Konzertfilm aller Zeiten” hier zu zelebrieren.

Ich bin voreingenommen, “Talking Heads” sind meine Lieblingsband, ich sitze fünf Meter vor der großen Leinwand, will den ultimativen Musik-Kick. Wie bei einem echten Konzert lassen sich die Künstler Zeit, eine Dreiviertelstunde lässt man das Publikum zappeln. Aber das ist kein echtes Konzert. Die Talking Heads lösten sich bereits 1991 auf. Was hier läuft, ist ihr Vermächtnis. Aufgenommen an drei Abenden des Jahres 1983 vor gut zweieinhalbtausend Fans im “Pantages Theatre” in Los Angeles. Der damals 38-jährige Regisseur Jonathan Demme, der später mit “Das Schweigen der Lämmer” großen Ruhm erlangen sollte, sieht eine Show der Heads, kontaktiert die Band und erarbeitet mit Frontmann David Byrne eine filmische Umsetzung der extravaganten Bühnenshow. Dabei verzichtet Demme auf die üblichen eingestreuten Interviews und Backstageaufnahmen und lässt allein die Songs sprechen, um den Zuschauern das perfekte und unverfälschte Konzerterlebnis zu ermöglichen. Es wird der erste komplett mit digitaler Tontechnik aufgenommene Spielfilm.

Tina Weymouth, Chris Frantz, Jerry Harrison, David Byrne – Talking Heads

David Byrne betritt die Leinwand-Bühne allein, er stellt einen Kassettenrekorder auf den Boden, startet ein Band mit einem Beat, stampft dazu mit seinem Fuß und schwingt seine Finger in die Saiten der Akustik-Gitarre. “Psycho Killer”! Sein wirrer Blick passt perfekt zum Song und wird ebenso perfekt von der Kamera eingefangen. Byrne stakst und stolpert über die Bühne, seine absichtlich ungelenken Bewegungen werden sich im Laufe des Konzerts noch steigern. Mit jedem weiteren Song erscheinen weitere Mitglieder der Band. Zunächst Bassistin Tina Weymouth, dann ihr Mann Chris Frantz, der mit seinem Schlagzeug auf einem Podest hereingeschoben wird, dann Keyboarder Jerry Harrison und schließlich die Backgroundsängerinnen Ednah Holt und Lynn Mabry sowie zur weiteren Unterstützung Keyboarder Bernie Worrell, Percussionist Steve Scales und Gitarrist Alex Weir. Bei “Burning Down the House” sind sie alle im Einsatz und die Begeisterung der Zuschauer ist nicht mehr zu überhören. Im Bild zeigt sie Demme jedoch erst gegen Ende des Konzerts, um die Zuschauer des Films nicht zu bevormunden. Der Fokus ist vollständig auf den Künstlern, man soll von sich aus mitgerissen werden. Und dank der ungewöhnlich intensiven Aufnahmen der einzelnen Bandmitglieder gelingt das auch. Sogar 36 Jahre nach dem Konzert, hier in Moabit. Der Sound ist toll, es klingt, als würden Miss Holt und Miss Mabry direkt links neben mir singen. Doch als ich zur Seite blicke, sind es tatsächlich auch Zuschauer, die sich als textsicher erweisen. Und so gibt es nach den Songs nicht nur Zwischenapplaus vom Live-Publikum aus der Vergangenheit, sondern auch vom Kino-Publikum im “Filmrausch”.

Wir erleben hier ein Bühnenstück in drei Akten, bei dem Byrne nach seinem liebevollen Tanz mit einer Stehlampe in „This Must Be The Place“ zum – für mich – absoluten Höhepunkt aufläuft, als er in seiner Rolle des zappeligen TV-Predigers den Hit „Once In A Lifetime“ stammelt, der in dieser Live-Version auch die Eröffnungsszene des Films „Zoff in Beverly Hills“ mit Bette Midler und Nick Nolte untermalt.

Für „Girlfriend Is Better“ schlüpft der Sänger dann in seinen „Big Suit“, einen speziell angefertigten Geschäftsanzug in grotesker Übergröße, der zum Markenzeichen der Konzert-Tour wird und Journalisten immer wieder nach dessen Bedeutung fragen lässt. Byrnes einfache Erklärung: auf der Theaterbühne müsse halt alles ein bisschen größer sein.
Größer als in diesem Film „Stop Making Sense“ kann man das Konzert nicht choreografieren und wirken lassen.

Ich durfte zwar mittlerweile zwei Konzerte von David Byrne besuchen, aber die kompletten Talking Heads konnte ich nicht mehr live erleben. Daher bin ich sehr dankbar, dass diese Kino-Freaks hier in Moabit mit viel Herzblut außergewöhnliche Erlebnisse organisieren und die Kinokultur am Leben halten. Möge ihre Arbeit weiterhin honoriert werden.

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