PÖNIs: (4,5/5)
Damals war´s, ich weiß, ich hasse das auch, aber – DAMALS, in den 70ern, 80ern, zur Blütezeit der Off-Kinos, die heute Arthouse-Kinos heißen, wäre solch ein britischer KNÜLLER sofort auf die dortigen Leinwände gekommen. Hätte man gerne DORT einen solchen Klasse-Film „zur Entdeckung freigegeben“. Und wäre mit Sicherheit auf viel Neugier/Interesse gestoßen. Heute aber bevölkern, allgemein betrachtet, viele Mist-Filme bzw. Füll-Filme die Leinwände, und solch eine cineastische Spannungsperle wie die gleich genannte „verkümmert“ hierzulande als DVD- bzw. Blu-ray-Premiere. Zumal der deutsche Titel eher nach Dutzendware klingt. Im Original lautet er „The Disappearance of Alice Creed“, bei uns ist er unter dem Titel:
„SPURLOS – DIE ENTFÜHRUNG DER ALICE CREED“ von J Blakeson (B + R; GB 2008; K: Philipp Blaubach; M: Marc Canham; 96 Minuten; deutscher Heimkino-Start: 15.03.2011); veröffentlicht worden.
J BLAKESON: Das J steht für Jonathan. Er ist 32 Jahre jung und ein in London ansässiger Drehbuch-Autor („The Descent 2 – Die Jagd geht weiter“/2009). „Spurlos…“ ist sein 1. eigener Spielfilm (als Drehbuch-Autor + Regisseur), lief viel beachtet auf verschiedenen internationalen Filmfestivals (Toronto, Tribeca, London, Fantasy Filmfest bei uns) und bekam hervorragende Kritiken. Sowohl vom Publikum (Platz 3 beim letzten Fantasy Filmfest) wie auch von den Berufskritikern. „Variety“ nannte J Blakeson als einen der 10 „interessantesten“ Neulinge, die 2010 auffielen und künftig „zu beobachten“ seien.
Dabei hört sich die Story – zunächst – alles andere als „besonders“ oder gar originell an, siehe Titel. Eine Entführung, so so. Bzw. na und? Schon oft gesehen, erlebt, abgehakt. Ein Allerwelts-Genre inzwischen. Doch schon der völlig dialoglose Einstieg „hat was“. Signalisiert Coolness. Sorgt für sofortige Neugier. Wie hier was kommentarlos wie unhektisch, aber offenbar sehr präzise-geplant „gemacht“ wird: zwei Typen. Der Eine so um die Anfang 20, der Andere um die Anfang 40. Bereiten die annoncierte (Titel-)Entführung überlegt vor. Legen den Stauraum eines geklauten Transporters mit Plastik aus. Kaufen „präzise“ im Baumarkt ein. Bohrmaschine, Seile, Holz, eine Matratze, das ganze Programm von Werkzeug, Material, um eine graue Vorstadtwohnung in London als „Festung“ auszubauen. Nach 5:35 Minuten das erste Wort: „Okay“. Nach 10:03 Minuten der erste komplette Satz zwischen den Beiden. Dann die kurze, weitgehend schmerzlose „schreiende“ Entführung. Von Alice Creed. Der attraktiven Tochter eines reichen Industriellen. Eines SEHR reichen Bosses.
Der ältere der Beiden ist Mr. Hart. Der „das Ding“ schnellstmöglichst und absolut „erfolgsorientiert“ clever durchziehen will. Ohne Blutvergießen, sondern mit kühler, ebenso präziser wie emotionsloser An-alles-Gedacht-Rundum-Berechnung. Der Jüngere ist Mr. Weich. Dem „die Grübeleien“, „die Gedanken“, schon mal von dem Älteren „hartnäckig“, vehement „verboten“ werden. In „der Sache“ aber ist man sich natürlich einig. Dem Papa-Goldesel werden die Bedingungen per Internet diktiert, dazu ein paar aktuelle Bilder von dem gefangenen „Mädel“, danach wird kassiert und reich abgehauen. So jedenfalls ist es geplant. Doch dann ergeben sich, natürlich, „Komplikationen“. Aber nicht „draußen“, außerhalb der Wohnung, sondern drinnen. Innen. Beim „Trio Infernale“. Weil sich herausstellt, dass Danny, der Jüngere, Alice Creed sehr wohl und „näher“ kennt. Seit langem. Und offensichtlich ganz eigene (Zukunfts-)Pläne plant. Mit ihr. Zusammen. Obwohl er doch mit Vic, dem Senior-Partner, auch „intim“ befreundet ist. Dazu kommt, dass die fast ständig geknebelte Alice keineswegs gewillt ist, nur das arme Opfer „zu spielen“, sondern sehr wohl auch „eigene Interessen“ verfolgt. Denk- wie handfest. Was also ist hier bloß los? Andauernd wenden sich die an sich doch feststehenden Positionen. Nichts steht also wirklich fest. Gar nichts. Misstrauen allerorten. Von wegen doppelter Boden mit Dreifach-Playern. Nichts ist so, wie man es vermutet. Und dann erst…
„Spurlos – Die Entführung der Alice Creed“ ist ein exzellenter, in 24 Drehtagen hergestellter klaustrophobischer Kammerspiel-Independent-Thriller. Mit raffinierten Einfällen und hitchcock`scher Suspense. Nervenaufreibend. Im faszinierenden Jeder-gegen-Jeden-Duell. Obwohl doch klare „Partnerschaften“ erklärt werden. Wenn hier jemand „vertrau´ mir“ sagt, klingt es mehr und mehr nur witzig-böse. Und dass eine simple Revolver-Patrone solch eine immense Aufmerksamkeit bekommt, erlebt man auch nicht alle (Klo-)Tage.
„Spurlos“ ist ein phantastischer Spannungs-Hit. Mit drei erstklassigen Akteuren: „Bond-Girl“ GEMMA ARTERTON („Ein Quantum Trost“), die neulich schon als „Dorf-Spusi“ in der komödiantischen Briten-Frechheit „Immer Drama um Tamara“ „nett“ auffiel, ist hier als gepeinigtes Opfer ebenso überzeugend sensibel wie sexy-unberechenbar. Der bislang unbekannte 25-jährige Schotte MARTIN COMPSTON, ein ehemaliger Profi-Fußballer, der so ausschaut wie der junge Edward Norton, mimt „das Danny-Weichei“ mit überzeugender Charakter-Balance. „Chef“ aber hier ist der 41-jährige Brite EDDIE MARSAN („The Illusionist“ von 2006; der überkandidelte Fahrlehrer Scott in Mike Leighs Komödie „Happy-Go-Lucky“/2008). In der grandiosen Vic-Mixtur aus unbeherrschter Diktator und zärtlicher Partner. Ausgestattet mit dem furiosen Kälte-Charme eines „wahnsinnigen“ Joe Pesci-Gangsters in „GoodFellas“ von Martin Scorsese. Mal Jekyll, mal Hyde. Mal freundlich, mal abgrundtief hass-explodierend. Was für ein grandioses Talent! Nie eindimensional, sondern porentief glaubhaft wandlungsfähig in Seele, Körper und Charakter. Ein ganz starker Tiefen-Schauspieler. Packend, „reizend“, hochinteressant. DIE Entdeckung.
„Spurlos – Die Entführung der Alice Creed“ oder – Heim-Kino vom Spannungsfeinsten (= 4 1/2 PÖNIs).
Anbieter: „Ascot Elite Home Entertainment“.