„SPEED – AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT“ von und mit Florian Opitz (D 2011; 101 Minuten; Start D: 27.09.2012); der 1973 in Saarbrücken geborene Journalist und TV-Dokumentarfilmer („Monitor“) fiel erstmals 2007 einem größeren Publikum auf, als er mit seinem Film „Der große Ausverkauf“ in die Kinos kam. Thema: Die weltweit zunehmenden Privatisierungen von Betrieben, um das Wirtschaftswachstum zu steigern. Und welch verheerenden Folgen dies für die unmittelbar Betroffenen bedeutet. 2009 wurde Florian Opitz für diese Dokumentation, die seit Mai 2008 auch auf dem DVD-Markt erhältlich ist, mit dem renommierten „Adolf Grimme-Preis“ ausgezeichnet. Sein zweiter Kinofilm widmet sich auch einem aktuell politischen wie gesellschaftlich heißen wie diskutablen philosophischen Thema – siehe Titel.
„Warten empfinde ich als Zumutung“, erklärt Florian Opitz, Familienvater, ein Baby, eingangs sein derzeit beunruhigendes Empfinden. Motto: Wir sind doch technisch inzwischen dermaßen hochgerüstet, dass man eigentlich SEHR viel MEHR Zeit „deshalb“ haben sollte. Müsste. Für sich. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Wir haben anscheinend immer weniger Zeit. Woran liegt das? Wieso geschieht das? Und ist das wirklich so? Es geht uns doch HIER eigentlich immer besser, aber imgrunde verelenden wir in Sachen Zeit immer mehr. Oder? Täglich erhalten wir Informationen, Nachrichten, Statements über das offenbar inzwischen allgegenwärtige wie zunehmende Phänomen Burnout-Syndrom. Über die menschliche Oberkanten-Erschöpfung. Warum?
Florian Opitz begibt sich auf die Suche. Reise. Nach Gründen. Erklärungen. Möglichen Lösungen. Überregional. International. Vernimmt die explodierende Ratgeber-Literatur zum Thema Zeitmanagement. Besucht ein Seminar des als „Zeitmanagement-Papstes“ geltenden Professor Dr. Lothar Seiwert („Mehr Zeit für das Wesentliche“). Was ihm wenig bringt. Zu viele Allgemeinplätze. Landet in der Praxis des Burnout-Experten Dr. Sprenger. Der bei Opitz Verhaltensmuster feststellt, die „demnächst“ zu einem Burnout führen könnten. Opitz trifft sich in München mit dem Redakteur Alex Rühle von der „Süddeutschen Zeitung“, der sich in einem Selbsttest Internet- und Handy-Entzug für ein halbes Jahr verordnete. Dessen Erfahrungen scheinen interessant. Verwertbar. Und weiter geht die Tour über Zeitforscher, Unternehmensberater, die Londoner Konzernzentrale der Nachrichtenagentur Reuter. Florian Opitz taucht in den vollautomatisierten weltweiten Börsenhandel ein, lässt sich vom Soziologen Hartmut Rosa den hektischen sozialen Wandel verständlich erläutern. Begegnet einem ehemaligen Investment-Banker von Lehman-Brothers, der gerade ein Praktikum als Berghüttenwirt absolviert. Landet bei einer zufriedenen Bergbauernfamilie in der Schweiz. Fliegt nach Chile, wo ein ehemaliger Textilunternehmer ein riesiges Naturreservat anlegt und langsam wachsende Bäume für die „saubere“ Zukunft pflanzt. Und findet eine erstaunliche Alternative in Bhutan, diesem kleinen Berg-Reich zwischen China und Indien, wo tatsächlich staatlich das „Bruttonationalglück“ über die Verfassung verordnet, „veranlasst“ wurde. Mit erstaunlichen Real-Ergebnissen. Als Beispiel auch für „woanders“?
Erkenntnisse viele, ohne Allheilmittel. Und Lösungen. Wie auch. „Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist ein bemerkenswerter Coach-Trip in den Zustand unserer Zeit. Wo der Zeit-Wettbewerb zum wichtigsten Geschäfts- und Lebens-Faktor geworden ist. Und ein digitales Fasten durchaus seine Berechtigung hätte. Individuell wie überhaupt. Von wegen notwendiger Entschleunigung. Für und zu mehr Qualität. Lebensqualität. Aber: Der Computer ist längst zu einer allgegenwärtigen Zeitvernichtungswaffe geworden. Für Seele und Körper. Bilanziert Florian Opitz. Allerdings – mit enormem Suchtpotenzial. Menschen bewegen sich wie in einem gierigen Hamsterrad und propagieren utopisches (Geld-)Glück. Durch immer mehr Mehr. Über optimale Leistungskraft. Permanentes Wachstum. Hochtechnisierte Dauerpuste. Florian Opitz nähert sich dem aktuellen brisanten Thema nicht verbissen. Schon gar nicht verkrampft. Nicht mit der „reinen“ Botschaftslehre. Oder ideologischer Fahne. Und schon gar nicht als Aussteiger-Hymne. Seine selbstironischen Off-Kommentare signalisieren „lediglich“ spannende Neugier. Ohne Patentlösungen. Die es auch gar nicht gibt. Geben kann. Die vielen Denk-Ansätze, -Anstöße sind es, die wirken. Weit über den filmischen Tellerrand hinaus. Individuell. Wenn das eigene Handy mehr abgestellt und der Computer längere Zeit nicht mehr so oft „in Anspruch“ genommen wird. Möglicherweise. Einen nicht mehr „dermaßen“ in Voll-Anspruch nimmt. Dermaßen umfangreich zeitlich vereinnahmt.
Dies hier ist ein Film, der angenehm unaufgeregt der eigentlich einfachen Sinn-Frage nachgeht – WIE WOLLEN WIR LEBEN? Fremdbestimmt, individuell? Tatsächlich? Als lebende Dauerhochleistungswesen mit ständig weiterem „Mehrwert“ oder als Individuen mit besonnener Unruhe? So was in der (Denk-)Art.
„Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist ein hochinteressantes neues Dokument von intelligent-lustvollem Kopf-Kino (= 4 PÖNIs).