„SÉRAPHINE“ von Martin Provost (Co-B+R; Fr/Belgien 2008; 125 Minuten, Start D: 17.12.2009); der 3. Spielfilm des Schriftstellers war in diesem Jahr in Frankreich d e r große „Abräumer“ bei den französischen Filmpreisen, den „Césars“. Gleich 7fach ausgezeichnet wurde „Séraphine“, darunter als „Bester Film“, „Bestes Drehbuch“ (Co-Autor ist Marc Abdelnour), Beste Kamera, Kostüme, Ausstattung sowie für YOLANDE MOREAU für den Titelpart. Wir müssen, emotional wie gedanklich, gegenüber dem Power-Krach von oben zurückschalten. Auf der Erde zurück und angekommen, bekommen wir es nun mit einer vergleichsweise herrlich ruhigen wie nahegehenden, sensiblen Menschen-Künstler-Biographie zu tun. DER von SÉRAPHINE LOUIS, auch Séraphine de Senlis genannt (1864-1942). Die heute zu den bedeutendsten Vertretern der Naiven Kunst in Frankreich zählt.
Befanden wir uns zunächst in der Zukunft, so müssen wir hier zeitlich zurückfahren. In die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. 1912. Wo der deutsche Kunsthändler Wilhelm Uhde (ULRICH TUKUR) seinen Aufenthaltsort von Paris nach Senlis verlegt, Uhde liebt die Kunst, hat Picasso ebenso entdeckt wie Rousseau. Ein passionierter, leidenschaftlicher Händler und Mäzen der Kunst, der jetzt aber erschöpft, gereizt, unsicher wirkt. In seinem Haushalt arbeitet zeitweise Séraphine, eine scheinbar äußerst eigenwillige, kommunikativ wenig zugängliche, unscheinbare und „irgendwie“ verschrobene Frau. Die oftmals abwesend scheint. Doch dann passiert etwas, was beider Leben fortan verändern wird: Uhde entdeckt, daß Séraphine malt. Und ist sofort angetan, ja elektrisiert. Erkennt d a s Talent. Will es kennenlernen. Aufbauen. Fördern. Unterstützen. Aber so einfach ist das nicht, schon gar nicht in DIESEN (Bald-Kriegs-)ZEITEN. Und mit SOLCH EINER PERSON. Die alleinlebende, eigenwillige Séraphine hat bisher viel Leid und Spott ertragen müssen. Denn der gesellschaftliche Unterschied zwischen „Herrschaft“ und „Bediensteten“ ist enorm. Ansichten, gar Gefühle oder Lebensidentitäten von „Untergebenen“ finden bei „Höhergestellten“ keinerlei Beachtung oder gar Anerkennung. Im Gegenteil, Séraphines Malerei wird als „Zeitverschwendung“ deklariert. Umso überraschter ist „man“, als Interesse an ihrer Malerei und folglich auch ihr aufkommt. Doch dann zerstört der Krieg die Kontakte. Als diese wieder aufgenommen werden können, beginnt eine merkwürdige wie ungleiche Beziehung zwischen „dem Deutschen“ und „der Französin“. Die wie eine Wahnsinnige (mit Schweineblut und Kerzenöl) malt, deren Alltagsleben aber von harter Arbeit und Existenznot geprägt ist. Eine zeitlang scheint sich ihr – versprochener – Traum von einer eigenen Ausstellung in Paris zu verwirklichen, doch dann kommt wieder einmal alles anders. Séraphine flüchtet in die psychische Erkrankung. Die Dämmerung beginnt. In der Nervenheilanstalt.
Ganz unangestrengt, ruhig, nüchtern verfolgt Martin Provost den Lebensweg dieser Autodidaktin. Zeigt sie als von religiösen Kräften Getriebene und Uhde als ambivalente Persönlichkeit, die guten Willens ist, aber dennoch menschlich versagt. Dabei beobachtet und erzählt er in langen, behutsamen Einstellungen, in denen „Seele“ dominiert und nicht die Sprache. Eine hochbegabte gepeinigte, gequälte Unterschichten-Frau, deren künstlerisches Talent zur falschen Epoche „auftaucht“. Ganz unten auf der sozialen Leiter, aber visionär ihrer Zeit weit voraus. Viel Anerkennung ist SO zu Lebzeiten kaum möglich.
„Séraphine“ ist ein ganz starker, packender, aufwühlender Menschen-Film. Ohne falsche Töne in einer nachvollziehbaren, spannenden Kammerspiel-Atmosphäre „hautnah“ zu erleben. Weil die Hauptdarsteller „riesig“ sind. Allen voran natürlich die 56jährige belgische Komödiantin, Schauspielerin, Drehbuch-Autorin und Regisseurin YOLANDE MOREAU. Die wir auch hierzulande durch ihren Film „Wenn die Flut kommt“ von 2004 kennen- und schätzengelernt haben. (Damals bekam sie in Frankreich ihre 1. „Cesar“-Trophäe). WIE sie körpersprachlich, also mimisch und laufend, in diese starke-arme Séraphine hineinschlüpft, ohne Mitleidsgeheische, zeugt von großem darstellerischem Kraft-Können und bewundernswerter Seelenverwandtschaft. Yolande Moreau verleiht dieser eigensinnigen Frau überzeugend wie glaubhaft Gesicht, Körper, Sprache und Bewegung. Ohne Pathos, Kitsch und Übertreibung. So daß SEELE sichtbar wird. Was für eine bravouröse darstellerische Leistung! Ulrich Tukur („Das Leben der Anderen“; „John Rabe“) ist als homosexueller Wilhelm Uhde von ebensolcher Präsenz, Ausstrahlung und bestechender „Schwäche“. Ein aufwühlendes, interessantes und informatives Erlebnis von filmischer Künstler-Biographie. Großartig (= 4 PÖNIs).