„SELMA“ von Ava Duvernay (USA 2014; B: Paul Webb; K: Bradford Young; M: Jason Moran; 128 Minuten; Start D: 19.02.2015); SELMA ist eine Stadt im Süden der USA, in Alabama, im Dallas County, mit Sitz der County-Verwaltung. Sie befindet sich am Alabama-River und hat heute rund 21.000 Einwohner. Selma wurde 1965 bekannt, als die – offiziell eigentlich abgeschaffte – Rassentrennung hier noch „ausgeübt“ wurde. Und sich hier damals zunehmend „Protest“ versammelte. Von 15.000 schwarzen Bürgern waren 1965 nur 130 im Wahlregister aufgeführt. Wer sich von ihnen zum Wählen anmelden wollte, wurde von lokalen Behörden-Mitarbeiter daran gehindert. Mit absurd schweren Fragen zu kulturellem und politischem Wissen „ausgetrickst“. Als Wähler „nicht angenommen“. 1965 gab es in Alabama Landkreise, in denen in den letzten 50 Jahren keine einzige schwarze Person an einer Wahl teilgenommen hatte. Teilnehmen durfte.
Drei Märsche, die von Selma zur Hauptstadt Alabamas, Montgomery, führten und von Martin Luther King angeführt wurden, brachten Selma damals in landesweit vielbeachtete Schlagzeilen. Die Bilder von friedlichen Demonstranten und brutal prügelnden Polizisten gingen zudem um die Welt. Am 7. März 1965 wurde im amerikanischen Fernsehen die Ausstrahlung des Films „Das Urteil von Nürnberg“ von Stanley Kramer von den Selma-Nachrichten unterbrochen; geschockte Amerikaner wurden in ihren Wohnzimmern plötzlich statt mit historischen mit erschütternden Bilder von „hauseigener“ Gewalt im angeblich so liberalen Hier und Jetzt konfrontiert. Der landesweite Bürger-Schock war immens. Dieser Tag wurde dann auch zu einem Wendepunkt in der Rassen-Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Auf Selmas Rolle im Kampf gegen die Rassentrennung weist auch die letzte Strophe des Protestsong-Hits „Eve of Destruction“ von Barry McGuire hin („Think of all the hate there is in Red China, then take a look around to Selma, Alabama!“), der in den USA am 21. August 1965 in die Pop-Charts gelangte und am 25. September die dortige Nr.1 war.
MARTIN LUTHER KING, geboren am 15. Januar 1929 in Atlanta; ermordet am 4. April 1968 in Memphis, Tennessee. Der Film setzt am 11. Dezember 1964 ein, als Martin Luther King in Oslo den Friedensnobelpreis erhält. Und folgt ihm bei und mit seinem Engagement bei örtlichen Aktivisten in Selma, wo sich Widerstand gegen die herrschende Rassentrennung (besonnen) formulierte. Und sammelte. Luther King fand hier mit seinen Anhängern, zwei Jahre nach dem „Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit“ (und seiner berühmten „I Have A Dream“-Rede), ein breites Betätigungsfeld. Dabei „verärgerte“ er nicht nur die regionale weiße Führerschaft (und dabei ganz besonders den faschistischen Orts-Sheriff Jim Clark/STAN HOUSTON), sondern auch den wütenden rechtsextremen Gouverneur George Wallace (brillant: TIM ROTH), dessen bigotte Ansichten und Reden für Spannungen im ganzen Land sorgten. Man wolle „diesen Nigger“ und seine Anhänger mit allen Mitteln „Manieren“ beibringen. Und begann mit entsprechenden Gegenmaßnahmen. Zudem begann sich das FBI unter ihrem Rechts-Boss J. Edgar Hoover (DYLAN BAKER) „energisch“ für den „Störenfried“ zu interessieren. Bemühte sich, ihn und seine Familie (CARMEN EJOGO als drangsalierte Ehefrau Coretta) zu denunzieren und zu diffamieren, wo und wie es nur „ging“. Salopp: „Pech“ nur, das Martin Luther King, geadelt durch seine wachsende Popularität und starke internationale Anerkennung, ständigen „Kontakt“ nach „ganz Oben“ pflegte. Zum Kennedy-Nachfolger und 36. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Lyndon B. Johnson. Ihre Beziehung war zwar geprägt durch gegenseitigen Respekt, war aber auch in ihrer Rivalität zutiefst kompliziert. Während der Zauderer Johnson mit dem nicht enden wollenden Vietnam-Krieg beschäftigt war und diese weitere politische Baustelle „an der Rassen-Front“ gerne diplomatisch „später“ angegangen wäre, beharrte Martin Luther King auf sofortiges politisches Handeln. Und umgehende Lösungen. Schließlich konnte der knorrige, aber durchaus verständnisvolle Texaner Lyndon B. Johnson die eskalierenden Ereignisse von Selma nicht – mehr – offiziell ignorieren. Diese unglaublich drastischen, entsetzlichen Direkt- Aufnahmen von widerwärtigster Polizei-, also Staatsgewalt. In einem demokratischen Staatsgebilde.
„Dies ist nicht nur eine Geschichte über den Kern von Demokratie, sondern von Menschenrechten“, äußert sich Johnson-Darsteller, der großartige britische Spitzenschauspieler TOM WILKINSON („Michael Clayton“) im Presseheft. In der Tat: Es ist im Nachhinein erstaunlich, warum sich erst 46 Jahre nach seiner Ermordung eine amerikanische Produktion – ausgestattet mit einem Mini-Budget von 20 Millionen Dollar, unterstützt von Star-Entertainerin und Schauspielerin OPRAH WINFREY – daranmacht, in die politischen wie privaten Tiefen, Aktivitäten und Zweifel eines der bedeutendsten Amerikaner des 20. Jahrhunderts zu schauen. Dessen Engagement und Ziele auch heute noch beziehungsweise wieder im politischen Amerika-Blickpunkt stehen. Wenn wir an aktuelle Ereignisse wie die in Ferguson oder im letzten Dezember in New York denken. Wo Schwarze von weißen Polizisten, mutmaßlich letztlich „einfach so“, getötet wurden. Der amerikanische Rassismus lebt; wie enorm wichtig ist dieser amerikanische Film. Aber auch: Wer eigentlich besitzt hierzulande mal den Mut, „so etwas“, also SPIELFILM-Spannendes, Aufregendes, Mitteilsames, über den einheimischen Rassismus filmisch zu erzählen? Der bei uns doch gerade mal wieder in voller übler Blüte Pegida-gedeiht???
Wie wuchtig! Wie berührend. Wie nahegehend. Wie glaubhaft! Der Film „SELMA“ packt. Als dichter Polit-Film. Als spannendes Drama. Als brillant gespieltes Spannungs-Movie. Das empörend, wütend, traurig und außerordentlich aufmerksam ständig reizt. Unter die Haut geht. Selten bin ich in letzter Zeit von einem Kino-Spielfilm dermaßen emotional und wunderbar denk-voll überwältigt worden. Der es prächtig unaufdringlich versteht, über seine starken, einprägsamen und überhaupt nicht eindimensionalen Figuren, Bilder und Gedanken permanent „zu wirken“. Kino in wirkungsvoller Höchstform.
Mit dem sagenhaft überzeugenden Briten DAVID OYELOWO, 38, als Martin Luther King: Präsent, charismatisch, sensibel, kraftvoll. Präsentiert Martin Luther King nicht als „Heiligen“, sondern als einen durchaus selbst-zweifelnden Leader. 2011 war David Oyelowo in dem Meisterwerk „Planet der Affen: Prevolution“ zu sehen; 2012 war er in dem unappetitlichen Tom Cruise-Radau-Film „Jack Reacher“ Nebenrollen-besetzt. Warum David Oyelowo für diesen „Olymp“-Auftritt – sogar seine Original-Stimme des Keine-Gewalt-Predigers King ist so ungeheuer stimmig – nicht auch eine „Oscar“-Nominierung bekam, ist völlig unverständlich. Seine Performance ist exzellent. Eindringlich. Vehement. Ebenso – dass die vom Independent-Kino kommende US-Regisseurin AVA DUVERNAY („I Will Follow“/2010) für ihren bedeutsamen zweiten Spielfilm keine Nominierung bekam, gleicht einem Skandal. Dass „Selma“ wenigstens bei der Auswahl um den „Besten Film“ am nächsten „Oscar“-Sonntag (22.2.) in Los Angeles mit-dabei ist, gleicht das Fehlverhalten der nominierenden Film-Akademie etwas aus. (Außerdem ist das Lied „Glory“ in der Kategorie „Bester Song“ nominiert).
„Selma“ ist ein grandioses, aufwühlendes, faszinierendes, würdevoll- gut unterhaltendes Polit-Drama. Mit außerordentlich viel denkreifem Aktualitätsgeschmack. Ein meisterlicher Film mit sagenhaft „wirkenden“ Bildern (= 5 PÖNIs).